Hochverehrter Herr & Freund! 1
Empfangen Sie für die verschiedenen interessanten Mittheilungen, welche Sie mir haben zukommen lassen, meinen besten Dank.
Nicht bloß ich, sondern auch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Mitgliedern der Bundesversammlung, welche sich für unsere Artikel: «Opposition & System»2 interessiren, wundern sich im höchsten Grade darüber, daß die Publication dieser Artikel eine so lange Unterbrechung erleidet. Man hört auch bei diesem Anlasse das Urtheil über das Verfahren der Verlagshaltung der N.Z.Z., an welches man schon lange gewöhnt ist.
Ihr Programm betreffend die Verwirklichung des Gotthardprojectes3 habe ich mit großem Interesse geprüft. Die technische Frage der Zweckmäßigkeit des Seilbetriebes & die weitere Frage des Schutzes der Bahn gegen den Unbill der Witterung in den höhern Regionen vorbehalten scheint mir das Programm vortrefflich ausgedacht. Der einzige Punct, der mir Bedenken macht, ist die Auswirkung der Subventionen in der Schweiz für das höhere, vorläufige Project. Es ist lächerlich, daß diese Seite der Sache als eine Hauptschwierigkeit bezeichnet werden muß. Aber es ist nun einmal so. Unsere Institutionen erweisen sich eben | immer mehr als ungemein schwach, um nicht zu sagen, als zu schwach für die Lösung von so großen Aufgaben! Herr Bürgermeister Stehlin, dem ich Ihr Programm zur Einsicht zustellte, urtheilt in gleicher Weise wie ich. Ich gege übrigens von der Ansicht aus, daß die Angelegenheit beförderlich dem Gotthardausschusse vorgelegt & daß derselbe veranlaßt werden muß, sich darüber zu erklären, welche Stellung er zu dem Projecte einnehmen wolle. Welche Äußerungen Sie unter so bewandten Umständen an der bevorstehenden Conferenz in Karlsruhe thun wollen, darf ich mit größtem Zutrauen Ihrem bewährten Tacte überlassen. Ich freue mich übrigens darüber, daß sich Ihnen eine so gute Gelegenheit, in Sachen zu sondiren, darbietet.
Mein Telegramm4 von vorhin betreffend mein Zusammentreffen mit Hrn. Scott Russel5 werden Sie erhalten haben.
In freundschaftlicher Hochachtung
ganz Ihr
Dr A Escher
Bern
18 Dezbr 1867
Kommentareinträge
1Nachträgliche Notiz neben Anrede von dritter Hand: «(an Stoll)» .
2Escher, Stoll, Franz Hagenbuch und Johann Jakob Rüttimann publizierten zwischen dem 13. und 25. Dezember 1867 in der NZZ eine Artikelserie unter dem Namen «Opposition und System», die als Reaktion auf die Vorwürfe Friedrich Lochers bzw. des Winterthurer «Landboten» zu verstehen war. Zur Reaktion des Systems auf die Locherschen Pamphlete vgl. Friedrich Lochers Pamphlete «Die Freiherren von Regensberg» und das liberale System Alfred Eschers, Die Reaktion des Systems.
3Dabei handelte es sich um ein ursprünglich von John Scott Russell bei der Direktion der Nordostbahn eingereichtes Projekt. Es sah vor, den Gotthardpass in zwei Phasen zu überschienen. Ein erster, hoch gelegener kurzer Tunnel, der schneller zu erstellen war, sollte später durch eine tiefer gelegene Linie mit einem langen Tunnel abgelöst werden. Das von Stoll entworfene Programm zur Verwirklichung dieses Projekts wurde dem Gotthardausschuss im Januar 1868 vorgelegt. Vgl. Prot. Ausschuss Gotthardvereinigung, 13. Januar 1868.
4Telegramm nicht ermittelt.
5 John Scott Russell (1808–1882), britischer Ingenieur und Schiffbauer.