Bern 8 Dezr 1869. 1
Hochgeachteter Herr & Freund!
In Beilage beehre ich mich, Ihnen den Entwurf zu einem Collectivschreiben2 der C.B. & der N.O.B. an den Bundesrath betr. die Rückwirkung der von dem Ctn. Aargau in neuester Zeit ertheilten Conzessionen auf die Subventionirung der Gotthardbahn durch die C.B. & die N.O.B. zu übermitteln. Der Entwurf ist die Frucht sehr eingehender Unterredungen, die ich mit Hrn. Bundespräsident Welti3 über diese Materie gepflogen habe. Hr. Welti ist mit dem Inhalte & der Redaction des Entwurfes ganz einverstanden. Sie sehen, daß nach dem Entwurfe die beiden Directionen die durch | die Conzessionirung der Aargauischen Bahnen veranlaßte Veränderung in der Situation der C.B. & der N.O.B. hinsichtlich der Subventionirung des Gotthards dem Bundesrathe einfach signalisiren & ihm anheimgeben, die durch die Sachlage gebotenen Maaßregeln zu ergreifen.4 Diese Maaßregeln können darin bestehen, daß der Bundesrath eine die Subventionirung des Gotthard betreffende Clausel in dem Genehmigungsbeschlusse der Bundesversammlung vorschlägt oder daß der Bundesrath nach erfolgter Genehmigung der Conzession die Conzessionäre einladet, mit der Gotthardvereinigung, bez.weise mit der C.B. & der N.O.B. einen Vertrag betr. die Betheiligung bei der Übernahme der Gotthardsubvention abzuschließen. Welchen Weg der Bundesrath einschlagen solle, muß seiner Würdigung überlassen werden. Die Haupt| sache ist, daß die C.B. & die N.O.B., so lange noch jeder Weg, der betreten werden kann, offen steht, dem Bundesrathe die Rückwirkung der Aargauischen Conzessionen auf die Subventionirung des Gotthard durch die beiden Bahnen signalisiren & es deutlich aussprechen, daß das Zustandekommen der fraglichen Bahnen eine Reduction der Subventionen der C.B. & der N.O.B. nach sich ziehen müßte.
Ich möchte Sie nun ersuchen, wenn Sie mit dem Entwurfe einig gehen, der C.B. durch offizielles Schreiben der Direction den Erlaß des Collectivschreibens vorzuschlagen & sie zu ersuchen, «falls sie einverstanden sei, das Schreiben sofort unterzeichnet an mich nach Bern zur Übergabe an den Bundesrath gelangen zu lassen, falls sie dagegen Bedenken habe oder noch weitere Aufschlüsse zu erhalten wünsche, einen Bevollmächtigten auf Freitag Mittag | nach Bern zu entsenden, damit ich mit demselben in mündlicher Verhandlung die Angelegenheit erledigen könne». Eine beförderliche Eingabe des Collectivschreibens an den Bundesrath wird nämlich durch die Umstände erfordert.
Ich bitte, mich von dem Geschehenen telegraphisch unterrichten zu wollen.
Hier wird sehr viel intriguirt hinsichtlich der bevorstehenden Bundesraths- & Bundesgerichtswahlen. Weber5 (statt Schenk6 ), S. Kaiser7 (statt Knüsel8 ), Anderwerth9 (statt Näff10 ) scheinen die Candidaten der Demokraten zu sein. Ich glaube, es werde bei den Bundesrathswahlen im Alten bleiben.11 Betreffend die Bundesgerichtswahlen ist die Wahl Häberlin's12 jedenfalls sehr zweifelhaft. Cérésole13 dürfte Ruchonet14 gegenüber & Sailer15 Suter16 v. St. Gallen gegenüber durchdringen. 17
In freundschaftlicher Hochachtung
Ihr ergebene
Dr A Escher
Kommentareinträge
1Nachträgliche Notiz oben rechts von dritter Hand mit Bleistift: «Aarg. Konz. » – Nachträgliche Notiz nach Anrede von dritter Hand: «an Stoll» .
2 Vgl. Schreiben Dir. NOB / Dir. SCB an BR, 10. Dezember 1869 (StAAG R04.B03c/0079).
3 Emil Welti (1825–1899).
4Der Grosse Rat des Kantons Aargau hatte dem Südbahnkomitee und dem Bözbergkomitee am 27. November 1869 die Konzessionen für die aargauische Südbahn bzw. die Bözbergbahn erteilt. Weil dadurch ein wesentlicher Teil des Gotthardverkehrs von den Linien der Schweizerischen Nordostbahn und der Schweizerischen Centralbahn auf die neukonzessierten Linien verlagert zu werden drohte, wandten sich die Direktionen der Nordostbahn und der Centralbahn in einem Schreiben an den Bundesrat. Sie vertraten diesem gegenüber den Standpunkt, dass man von ihnen nicht verlangen könne, infolge ihrer Gotthardsubvention den Bau der aargauischen Linien zu ermöglichen, ohne dass das Südbahnkomitee und das Bözbergkomitee sich ihrerseits am Subventionsbeitrag für die Gotthardbahn beteiligen würden. Vgl. Schreiben Dir. NOB / Dir. SCB an BR, 10. Dezember 1869 (StAAG R04.B03c/0079); Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend die Konzessionen für eine Bözbergbahn, eine aargauische Südbahn und eine Eisenbahn Wildegg–Lenzburg (vom 11. Dezember 1869), in: BBl 1869 III, S. 618–619; Kessler, Nordostbahn, S. 41–48; Emil Welti an Alfred Escher, 14. Januar 1870, Fussnote 9.
5 Johann Weber (1823–1878), Regierungsrat und Ständeratspräsident (BE).
6 Karl Schenk (1823–1895), Bundesrat (BE).
7 Simon Kaiser (1828–1898), Kantonsrat und Nationalrat (SO), Direktor der Solothurner Bank, Verwaltungsrat der Eidgenössischen Bank in Bern.
8 Josef Martin Knüsel (1813–1889), Bundesrat (LU).
9 Fridolin Anderwert (1828–1880), Regierungsrat und Nationalrat (TG).
10 Naeff Wilhelm Matthias (1802–1881), Bundesrat (SG).
11 Schenk, Knüsel und Näff wurden in der Bundesratswahl vom 10. Dezember 1869 wiedergewählt. Vgl. Staatskalender CH 1870/71.
12 Eduard Häberlin (1820–1884), Grossrat (TG), Bundesrichter und Direktionsmitglied der Nordostbahn.
13 Paul Cérésole (1832–1905), Grossrat, Nationalrat (VD), Bundesrichter und Verwaltungsrat der Compagnie de l'Ouest-Suisse.
14 Louis Ruchonnet (1834–1893), Staatsrat und Nationalrat (VD).
15 Carl Georg Jakob Sailer (1817–1870), Grossrat, Regierungsrat, Nationalrat (SG) und Bundesrichter.
16 Gallus August Suter (1829–1901), Grossrat (SG) und Anwalt in St. Gallen.
17 Häberlin, Cérésole und Sailer wurden in der Wahl der Bundesrichter vom 10. Dezember 1869 wiedergewählt. Vgl. Kern, Repertorium I, S. 327; Staatskalender CH 1869/70.