



Paris 4 April 1880.
Hochverehrter Herr & Freund!
Es liegt mir die angenehme Pflicht ob, Ihnen für Ihre freundliche Mittheilung von meiner Wahl in den Verwaltungsrath der Cre-ditanstalt zu danken. Ich kann mit Beziehung auf diese Angelegenheit nur bestätigen, was ich Ihnen letzthin schrieb. Von dem, was ich über Ihre Thä-tigkeit an der Anstalt sagte, könnte ich kein Jo-ta streichen lassen. Mein Urtheil ist nicht dasjeni-ge eines verblendeten Freundes: es beruht auf Wahrnehmungen, welche ich als Ihr Mitar-beiter viele Jahre hindurch zu machen im Falle war, & es stimmt auch mit dem allgemeinen Urtheile überein. Diejenigen, die es mit der Creditanstalt wohl meinen, haben nur Ei-nen Wunsch zu hegen & dieser besteht darin, daß es Ihnen noch recht lange vergönnt sein möge, an der Anstalt zu wirken. Ich erblicke darin eine Hauptbedingung ihres Gedeihens.
Ich habe nun also die Wahl in den Ver-waltungsrath der Creditanstalt anzunehmen erklärt. Die Aussicht, dadurch mit Ihnen wie-der in öftere Berührung zu kommen, hat nicht | am wenigsten, sondern am meisten zu mei-nem Entschlusse beigetragen. Es kam mir oft un-natürlich vor, daß, innerlich nahe, wie ich Ihnen ste-he, wir so selten zusammenkommen. Sie erinnern sich wohl noch, daß ich Ihnen in jener fürchterli-chen Zeit, in der mir Blumer & Rüttimann durch den Tod entrissen wurden, sagte, Alles, was diese verewigten Freunde für mein inne-res Leben waren, wäre mir gänzlich & für alle Zukunft verschlossen, wenn ich nicht noch Sie hätte. Dieses Gefühl, von dem ich damals beseelt war, lebt zur Stunde noch ungeschwächt in mir fort. Wie heimlich wird es mich daher anmuthen, nunmehr wieder auch in fortgesetzten äußern Verkehr mit Ihnen zu treten!
Hr. Dr. Ryf scheint sich in der Generalver-sammlung der Creditanstalt neuerdings aus-gezeichnet zu haben. Der Mann hat die Ge-wohnheit angenommen, bei jeder sich darbieten-den Gelegenheit eine Rede zu halten, nach welcher es jeweilen genau so ist, wie vorher! Dießmal scheint es übrigens nachher doch nicht gewesen zu sein wie vorher! Ich habe nämlich gehört, daß Sie ihm nach Verdienen heimgeleuch-tet haben! Eine sachlich unfruchtbarere Thä-tigkeit, als sie Hr. Dr. Ryf entwickelt, läßt sich in meinen Augen nicht denken! Hasler behaup-tet immer, er leide an Großmannssucht.
Ihre Mittheilungen über die Leistungen | & das Verhalten Alfred Rüttimanns auf dem Bu-reau der Buchhaltung der Creditanstalt haben mich sehr beruhigt. Sie könnten nicht so lauten, wenn der junge Bursche ein so ungeregeltes Leben führen würde, wie es vermuthet wird. Ich wer-de mich sogleich nach meiner Rückkehr mit der Sache auf's angelegentlichste beschäftigen, handelt es sich doch für mich um die Erfüllung einer heili-gen Pflicht! Aber ich habe das vorläufige Gefühl, daß die Spießbürgerlichkeit bei der Beurtheilung Alfred's eine allzu überwiegende Rolle spielen dürfte.
Die Nationalbahnangelegenheit nimmt ganz den Character einer chronischen Krankheit an. Die Eidg. Bank hat, wie es scheint, an Felsenau, Perlen & an einer Menge glänzender Hotels von zweifel-haftem Werthe noch nicht genug: sie bedarf zur Fest-stellung ihres Credites noch der Erwerbung der Na-tionalbahn! Die Veranstaltung einer illustrir-ten Prachtausgabe von Simon Kaiser's sämmtlichen Werken wäre gewiß auch ein gutes Geschäft!
Wir haben hier sehr viel Interessantes & Schönes gesehen & gehört. In diesem Augenblicke bin ich aber zur Abwechslung wieder unwohl. Heftiger Husten, Asthmaanfälle in der Nacht, intermittirender Puls. Es ist mir seit Dienstag Zimmerarrest auf-erlegt. Da ich das Pariserleben nicht außer dem Hause studiren kann, so studire ich es jetzt in dem Hause, indem ich die neusten Sensationsromane von Zola, welche in wenigen Wochen 70 Auflagen erlebt haben, nämlich das Assommoir & die Nana, | lese. In welchen Abgrund sieht man da herein! Wenn ich nicht wüßte, daß Sie nicht einmal für das Gesang-buch die erforderliche Zeit erübrigen können, so wür-de ich Ihnen die Lectüre dieser beiden Romane emp-fehlen!
Wir werden auf Anfang Mai nach Hause zurück-kehren. Ob auf einem Umwege über Amsterdam, Brüssel & den Rhein oder via Lyon, Marseille, Niz-za, Genua & Turin oder recta via, um desto läng-er in Paris verweilen zu können, lasse ich ganz von dem bon plaisir meiner Fräulein Tochter abhängen. Ich kann mich irren, aber ich glaube, sie wird sich für die recta via entscheiden & zwar lei-der nicht darum, weil sie «den geraden Weg für den besten», sondern weil sie den Aufenthalt in Paris für den angenehmsten hält!
Ich habe Lydie, die neben mir sitzt, den letzten Passus dieses Briefes vorgelesen. Sie hat in weni-ger langweiliger Weise davon Notiz genommen, als wir diese Formel in Anwendung zu bringen pflegen. Dabei beauftragte sie mich, Sie schön von ihr zu grüßen & Sie ihrer speziellen Huld zu versichern. Ich trage als Vater Bedenken, diesen Auftrag auszurichten!
Und nun darf ich nicht vergessen, daß Sie ein Mann sind, der etwas zu thun hat, & ich ein Tage-dieb! Ich schließe also & verbleibe in freundschaft-licher Hochachtung
Von Herzen Ihr
Dr A Escher