Schweizerische Kreditanstalt.
Société de Crédit Suisse.
ZÜRICH.
Direction.
Zürich, 5. Septbre 1877.
Hochgeachteter Herr Präsident!
Wie Sie habe ich schon längere Zeit das Gefühl, daß es hoch an der Zeit sei, mit der Finanzfrage der NOB. vorwärts zu kommen & die Sache, wenigstens in provisorischer Weise, so gut wie möglich zu ordnen. Ich meinerseits habe auch fortwährend in diesem Sinne gewirkt. Wir haben es aber hier mit einem Geschäftsgang zu thun, der komplicirter & schleppender gar nicht gedacht werden kann, von persönlichen Verhältnissen gar nicht zu reden! Es ist manchmal geradezu zum Verzweifeln.
Die Verhandlungen mit der Nordostbahn konnten erst am 26. v. M. an Hand genommen werden, da Herr Dr E. Escher1 erst auf diesen Tag aus den Ferien heimgekehrt ist. Seither ist nun Manches gegangen, ohne dass man indessen des endlichen Erfolges gewiß ist.
In einer Konferenz der ostschweiz. Banken haben sich, außer der Kreditanstalt, die Bank in Winterthur, die Aargauische Bank, die Banken in Glarus & Schaffhausen bereit erklärt, für die Bildung eines Konsortium's die Initiative zu ergreifen. Die beiden | thurgauischen Banken haben eine Betheiligung abgelehnt. An andere Banken ist man vorläufig noch nicht gelangt, da man es für zweckmäßiger fand, die Sache erst in einer etwas gereifteren Gestalt in weitere Kreise zu bringen.
Seither habe ich nun, im Auftrage obiger Bankkonferenz in Verbindung mit Herrn Bankdirektor Keller2, mit der Delegation der NOB. (Escher, Römer3 & Cramer4 ) die Redaktion eines Vertragsentwurfes vereinbart & heute auch den Konsortial-Vertrag entworfen. Ich werde mir morgen erlauben, Ihnen diese beiden Entwürfe sous bande zugehen zu lassen & wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Gefälligkeit hätten, dieselben mit kritischen Augen zu prüfen & mir bald möglichst Ihre Bemerkungen darüber zu machen.
Nächsten Samstag tritt die Bankenkonferenz zu Behandlung der beiden Vertragsentwürfe nochmals zusammen. Alsdann werden unverweilt auch andere Banken & Bankfirmen zum Zutritt eingeladen werden.
Mit dem Comptoir d'Escompte in Paris sind die Unterhandlungen wegen der Aushingabe | von 28,000 Obligationen gegen Abzahlung von fr. 5,000,000 & der Prolongation der restirenden fr. 20,000,000 im Gange & zwar mit Aussicht auf einen günstigen Erfolg.5
Ebenso ist die Centralbahn um ihre Zustimmung zu dem Verkaufe der 5 Mill. Gemeinschaftsobligationen im Sinne des projektirten Arrangement's angegangen worden.6
Ferner sind gegenüber den maßgebenden Zürich städtischen Personen Schritte gethan worden, um eine Mitwirkung der Stadt in einer ihr passenden Form zu erlangen.
Von der Kommission der Generalversammlung7 wissen wir nur durch mündliche Mittheilungen von Herr Studer8, daß sie dem Projekt günstig ist. Ich habe nun dafür gesorgt, daß die Reorganisationskommission9 von derselben eine schriftliche Erklärung verlangt, daß sie bereit sei, dasselbe der Generalversammlung zur Annahme zu empfehlen.
Die Mehrheit der Delegation der NOB. verlangte beharrlich, daß den Aktionären & Obligationären möglich gemacht werden solle, sich beim Konsortium | mit Beträgen bis auf fr. 1,000 herunter zu betheiligen. Obschon dieses die Sache außer ordentlich komplicirt, indem das Geschäft auf diese Weise nicht mehr den Charakter eines gewöhnlichen Konsortialgeschäftes erhält, so haben wir, wenn auch mit Widerstreben, dennoch nachzugeben geglaubt, zumal auch die Generalversammlungs-Kommission solches zu wünschen scheint.
Wir haben die Abhaltung der Generalversammlung vorläufig auf Ende des Monates in Aussicht genommen. Ein früherer Termin wird schon deßhalb ausgeschlossen sein, weil die Kommission der Gen.Versammlung mit ihren Arbeiten noch im Rückstande zu sein scheint.10
Ich habe dieser Tage Herrn Minister Dr Kern gesehen & von demselben vernommen, daß Herr Hentsch11 sich sehr wünschen würde, während seines Aufenthaltes in der Schweiz mit Ihnen an einem dritten Orte eine mündliche Besprechung zu haben. Herr Kern ist der Ansicht, daß eine solche Besprechung den Interessen der Nordostbahn außerordentlich förderlich sein würde.
Hochachtungsvollst
Ihr
Stoll.
P. S. Das von Ihnen erwähnte Pamphlet12 habe ich nicht selbst lesen mögen. Ich vernehme aber zu meiner Befriedigung, daß es nicht viel zu bedeuten habe & sich auch keines günstigen Erfolges zu erfreuen habe. Muthmaßl. Verfasser: Memminger13.
Kommentareinträge
1 Eugen Escher (1831–1900), Grosser Stadtrat von Zürich, Vizepräsident der Direktion der Nordostbahn.
2 Konrad Keller (1836–1892), Direktor der Bank in Winterthur.
3 Melchior Römer (1831–1895), Stadtpräsident von Zürich, Kantonsrat und Nationalrat (ZH), Verwaltungsrat der Nordostbahn.
4 Heinrich Cramer-von Wyss (1829–1906), Kantonsrat (ZH), Verwaltungsrat der Nordostbahn.
5Die Unterhandlungen mit dem Comptoir d'Escompte führten zum gewünschten Erfolg; die genannten 28 000 Obligationen im Nominalwert von 14 Mio. Franken bildeten in der Folge einen Teil des Obligationengeschäfts der Nordostbahn mit dem schweizerischen Bankenkonsortium, das mittels Vertrag vom 8. September abgeschlossen werden konnte. Der Fälligkeitstermin für die übrigen 20 Mio. Franken wurde auf den 31. Dezember 1878 erstreckt. Vgl. Geschäftsbericht VR NOB 1877, S. 38; Kessler, Nordostbahn, S. 86–87.
6Diese noch im Besitz der Nordostbahn befindlichen Anleihen, die aus einem gemeinsamen Obligationengeschäft der Nordostbahn und der Centralbahn mit einer Anzahl deutscher und schweizerischer Banken von März 1874 stammten, bildeten in der Folge den anderen Teil des Obligationengeschäfts der Nordostbahn mit dem schweizerischen Bankenkonsortium. Vgl. Bericht Dir. NOB an GV [30. Juni 1877], S. 41; Geschäftsbericht VR NOB 1877, S. 38; Kessler, Nordostbahn, S. 86–87.
7Die Generalversammlung der Aktionäre der Nordostbahn hatte am 30. Juni 1877 auf Antrag des Verwaltungsrates eine Kommission gewählt, die mit der Prüfung der Berichte von Direktion und Verwaltungsrat beauftragt wurde und der Generalversammlung über das Resultat dieser Prüfung Bericht erstatten sollte. Zudem sollte die Kommission den Statutenentwurf und das Programm zur finanziellen Rekonstruktion der Gesellschaft begutachten. Vgl. Prot. GV NOB, 30. Juni 1877 (S. 227–229, 238–240); Bericht Aktionärskommission NOB 1877.
8 Heinrich Studer (1815–1890), Kantonsrat und Nationalrat (ZH), Verwaltungsrat der Nordostbahn, Präsident des Bankrats der Zürcher Kantonalbank.
9Gemeint ist die von Escher präsidierte Reorganisationskommission des Verwaltungsrats der Nordostbahn, zu deren weiteren Mitgliedern Stoll gehörte. Alfred Escher, Georg Stoll und die Rekonstruktion der Nordostbahn, Die Reorganisationskommission des Verwaltungsrates
10Die ausserordentliche Generalversammlung der Aktionäre der Nordostbahn fand am 10. Oktober 1877 statt. Die Aktionärskommission unterstützte dabei wie von Stoll gewünscht die Anträge des Verwaltungsrats; ihren Bericht schloss sie indes erst im Februar 1878 ab. Vgl. Prot. GV NOB, 10. Oktober 1877; Bericht Aktionärskommission NOB 1877.
11 Edouard Hentsch (1829–1892), in Paris niedergelassener Genfer Bankier, Teilhaber und Leiter der Privatbank Hentsch, Lutscher und Compagnie in Paris, Verwaltungsratspräsident des Comptoir d'Escompte de Paris.
12Die unter dem Pseudonym «Belial Sauerteig, kosmopolitischer Nachtwächter» veröffentlichte Schrift trug den Titel «De Züri-Herrgott oder die Kunst, ein reicher, hochangesehener und mächtiger Mann zu werden. Colloquia über Leben und Thaten des berühmten Schwarzkünstlers und Doktors der höhern Magie, Alfredi Magni Turicensis». Vgl. Alfred Escher an Georg Stoll, 27. August 1877; Memminger, Züri-Herrgott; Jung, Aufbruch, S. 293, 295; Alfred Escher, Georg Stoll und die Rekonstruktion der Nordostbahn, Absatz 15.
13 Anton Memminger (1846–1923), bayrischer Pamphletist und Publizist, ehemaliger Bürochef der Nordostbahn.