Homburg 20 August 1877.
Hochverehrter Herr & Freund!
Erst vor ein Paar Stunden – die verspätete Übersendung ist wohl nur der Ungunst des Zufalles zuzuschreiben – erhielt ich die Beilage1. Ich beeile mich, Ihnen dieselbe zuzustellen. Ich denke, es wird dem Wunsche des Comités der Rechtsufrigen2 zu entsprechen, damit aber unter Hinweisung auf die finanzielle Lage der N.O.B. , welche eine baldige Entscheidung als eine unabweisliche Nothwendigkeit erscheinen lasse, das Ansuchen um thunlichst beförderliche Durchführung der Unterhandlungen mit den Rechtsufrigen, welche sich ohnehin schon so sehr in die Länge gezogen, zu verbinden sein.3 Ich weiß wohl, daß sich diese Durchführung der Unterhandlungen kaum vor dem Zeitpuncte erreichen | lassen wird, in welchem wenigstens das interimistische Finanzarrangement zur Aufrechthaltung der N.O.B.gesellschaft wird abgeschlossen werden müssen.4 Ich glaube aber, daß dem letztern kein Hinderniß daraus erwachsen kann, daß es noch nicht möglich war, mit der Rechtsufrigen ein abschließliches Abkommen zu erzielen. Nachdem nämlich Seitens der N.O.B. die bekannten zwei Vorschläge5 gemacht worden sind, welche auf die öffentliche Meinung den Eindruck gemacht haben müssen, daß die N.O.B. an die äußerste Grenze dessen, was billiger Weise von ihr verlangt werden kann, gegangen ist, & nachdem das Comité der Rechtsufrigen nicht etwa beide Vorschläge abgelehnt hat, sondern auf den einen derselben eingetreten ist6, die Schuld an dem wohl in Aussicht zu nehmenden schließlichen Scheitern der letztern also nicht dem Mangel an Entgegenkommen der N.O.B. zugeschrieben werden kann, darf nun wohl mit voller Bestimmt| heit angenommen werden, daß im ungünstigsten Falle für die N.O.B. die Bundesversammlung für den Bau der Rechtsufrigen eine Fristerstreckung bis Ende 1885 gewähren wird. In Folge der Wendung, welche die Unterhandlungen mit der Rechtsufrigen in der neusten Zeit genommen haben, dürfte die Moratiumsfrage überhaupt als zu Gunsten der N.O.B. erledigt anzusehen sein.
Seit vorgestern bin ich nun hier als Tagedieb & «Spitaler», wie wir in Zürich sagen, installirt. Es dürfte nur als Beweis mehr hiefür dienen, daß ich nichtsdestoweniger in dieser kurzen Spanne Zeit schon eine ganze Fluth geschäftlicher Briefe von Stapel gelassen habe!
Es würde mich sehr freuen zu vernehmen, daß Sie sich ganz wohl befinden & daß die unangenehmen Erscheinungen, welche allerdings unter dem Drucke eines wahren Sirocco neuerdings bei Ihnen zu Tage getreten waren, sich gänzlich verloren haben. Es thut mir so leid, daß ich Ihnen in Folge meiner Abwe| senheit Ihre ohnehin schon enorme Arbeitslast noch vermehre!
Lydie, die neben mir sitzt & der ich sagen mußte, wem ich schreibe, schickt Ihnen einen «tief respectvollen Gruß».
Ich bitte Sie, diese Zeilen, die einer Erwiederung nicht bedürfen, unbeantwortet zu lassen & verbleibe in freundschaftlicher Hochachtung
Ihr
Dr A Escher
Den beiliegenden Brief7 des H. Hürlimann-Müller8 gedenke ich einfach ad acta9 zu legen. Ich glaube ihn Ihnen aber doch zur Einsicht übermitteln zu sollen.
Kommentareinträge
1Beilage nicht überliefert. – Es handelt sich vermutlich um das Schreiben des Komitees der rechtsufrigen Zürichseebahn an die Nordostbahn vom 17. August 1877. Vgl. Bericht VR NOB Bauverpflichtungen, S. 5.
2Gemeint ist die rechtsufrige Zürichseebahn von Zürich (Stadelhofen) nach Rapperswil.
3Im Rahmen der Verhandlungen der Nordostbahn mit den Komitees verschiedener Bahnlinien, zu deren Bau sie sich verpflichtet hatte, erwies sich insbesondere eine Einigung mit dem Komitee der rechtsufrigen Zürichseebahn als schwierig, da dessen Vertreter eine Fortführung des Baus forderten bzw. einem Moratorium nur in Verbindung mit weitreichenden Bedingungen zustimmen wollten. Als Resultat langwieriger Verhandlungen konnte aber am 16. Januar 1878 doch ein Vertrag unterzeichnet werden, mit dem sich das Komitee der rechtsufrigen Bahn mit dem Beitritt zu den Moratoriumsbeschlüssen einverstanden erklärte. Vgl. Bericht VR NOB an GV [30. Juni 1877], S. 42–44, Beilage IV a (S. 9–14), Beilage IV b (S. 17–18); Bericht VR NOB Bauverpflichtungen, S. 4–8, 29–59; Geschäftsbericht VR NOB 1877, S. 12–18; Kessler, Nordostbahn, S. 58–60, 160–163; Alfred Escher, Georg Stoll und die Rekonstruktion der Nordostbahn, Das Moratorium: Aufschub der Bauverpflichtungen.
4Am 8. September 1877 schloss ein Bankenkonsortium unter Leitung der Schweizerischen Kreditanstalt mit der Nordostbahn einen Vertrag zum Ankauf von Obligationen gegen Bezahlung von 12 990 000 Franken. Georg Stoll an Alfred Escher, 5. September 1877; Alfred Escher, Georg Stoll und die Rekonstruktion der Nordostbahn, Finanzielle Reorganisationsprojekte.
5Anlässlich einer Konferenz zwischen Vertretern der Nordostbahn und des Komitees der rechtsufrigen Zürichseebahn unter Leitung von Bundesrat Fridolin Anderwert am 6. August hatte die Nordostbahn-Delegation einen Doppelvorschlag eingebracht. Demnach sollte entweder die Bahn sofort als eigenständiges Unternehmen errichtet weden, oder die Linie sollte wie die anderen Bauverpflichtungen unter das Moratorium gestellt werden, wobei dann die Nordostbahn entweder die bereits geleisteten Subventionen mit Zinsleistung zurückzahlen oder diese als Nordostbahn-Anleihen zu günstigen Konditionen behandeln würde. Vgl. Bericht VR NOB Bauverpflichtungen, S. 29–53.
6In seinem Schreiben vom 17. August erklärte das Komitee der rechtsufrigen Bahn, die Unterhandlungen mit der Nordostbahn auf Basis des Vorschlags der Errichtung eines selbständigen Unternehmens fortführen zu wollen. Der Stadtrat der bei den Subventionsleistungen für die Linie stark beteiligten Stadt Zürich hingegen erklärte am 28. August, an keinen weiteren Verhandlungen teilnehmen zu wollen, welche die Ablehnung des Moratoriums bezweckten. Vgl. Bericht VR NOB Bauverpflichtungen, S. 5–8.
7Brief nicht ermittelt.
8 Heinrich Hürlimann-Müller (Lebensdaten nicht ermittelt), ehemaliger, Mitte August 1877 ausgetretener zweiter Kassier bei der Schweizerischen Kreditanstalt.
9Ad acta (lat.): zu den Akten.