Mein lieber Freund!
Es ist mir gestern ein Schreiben Roggenbach's zugekommen, welches einen passus enthält, von dem ich Dir eine Abschrift ausschließlich zu Deinem persönlichen Gebrauche zustellen zu sollen glaube. Du siehst, daß die Gotthardtidee in Deutschland entschieden Propaganda macht. Der Beitritt Würtemberg's zu derselben ist gemäß der geographischen Lage dieses Landes in meinen Augen von großer Wichtigkeit. In Preußen scheint die Stimmung auch – nach der Haltung des Preußischen Gesandten in Turin zu urtheilen – eine dem Gotthardte & der finanziellen Unterstützung einer Schweizerischen Alpenbahn von Zollvereinswegen günstige zu sein. Während sich im Norden in solcher Weise die Chancen verbessern, gestalten sich im Süden die Dinge nicht ungünstiger. Daß die Bahnen (Rothschild) eine Subvention von 10 Mill. Franken für eine beliebige Alpenbahn (mit einzigem Ausschlusse des Simplon ) anbieten, daß sie also nicht für den Lucmanier gegen den Gotthardt Partei nehmen, ist ein für den letztern ungemein günstiges Ereigniß. Auch in den offiziellen Regionen Italiens greift die Gotthardts idee immer mehr Platz & es wird sich dieß in noch weit höherm Maaße herausstellen, wenn einmal auch offiziell feststeht, daß | die Schweiz zu einer den Canton Tessin nicht berührenden Splügen- oder Septimer Bahn unter keinen Umständen Hand bieten wird.1 Mittlerweile ist der Atlas mit dem Distanzenverzeichnisse & den Verkehrszonen der verschiedenen Alpenbahnprojecte, welcher eine Beilage zu dem commerziellen Gutachten des Gotthardtausschusses2 bilden soll, vollendet worden & es wird derselbe mit dem technischen Gutachten3, welches mit seinen zahlreichen Beilagen & veranschaulichenden Plänen in etwa 14 Tagen gänzlich vollendet sein wird, im In- & Auslande in gleichem Umfange verbreitet werden, wie dieß mit dem commerziellen Gutachten geschah. Durch diese ungemein gründlichen Vorarbeiten ist, wie ich glaube, in unwiderleglicher Weise dargethan, daß der Gotthardt in commerzieller4 Beziehung der geeigneteste Alpen paß ist & daß er in technischer5 & finanzieller6 Beziehung den andern Projecten durchaus nicht nachsteht, wie man Jahrelang den Leuten vorgeschwatzt & dadurch beinahe erreicht hat, die öffentliche Meinung irre zu führen.
Angesichts dieser nicht ohne große Anstrengungen herbeigeführten Sachlage, nimmt sich die heute vor 8 Tagen in Bern abgehaltene Grimsel bahnversammlung7 &, was d'rum und d'ran hängt, ungemein erbaulich aus!!
Der Brief von Roggenbach wird Dich wohl in Deinem schon früher gefaßten Entschlusse, die Aufnahme der bewußten Bestimmung in die Instruction für die Unterhandlungen mit dem Deutschen Zollverein zu veranlassen, neuerdings bestärken. Wenn nur die Schweizerischen | Abgeordneten8 den Willen haben, von der so ungemein günstigen Situation, welche in Deutschland betreffend die Alpenbahnfrage in Entwicklung begriffen ist, den gebührenden Vortheil zu ziehen!?
Cappeler9 hat mir gestern Abend den Entwurf zu dem neuen Reglemente betr. die polytechnische Schule zugestellt & dabei die Ansicht ausgesprochen, die Commission des Schulrathes könnte schon in der mit heute beginnenden Woche sich zur Berathung des Entwurfes versammeln. Ich habe mir aber eine Frist von 1–2 Monaten zum gründlichen Studium der Frage ausgebeten & glaube darin im Hinblicke auf meine anderweitigen Beschäftigungen sowie in Würdigung der Thatsache, daß K. sich zu der Ausarbeitung des Entwurfes 5/4 Jahre Zeit genommen hat, nicht zu weit gegangen zu sein. Gemäß der zwischen uns getroffenen Verabredung werde ich mit großem Vergnügen vor der sachbezüglichen Commissionalberathung das Thema mit Dir durchsprechen. 10
Ich hoffe, die l. Deinigen befinden sich wohl, & verbleibe mit freundschaftlichem Gruße
Dein
A Escher
Belvoir
26. Febrr 1865.
Kommentareinträge
1In einer Note an die italienische Regierung vom 1. Juli 1863 betonte der Bundesrat, dass er über die von Italien ins Auge gefassten Alpenbahnprojekte informiert werden möchte, damit diese nicht von vornherein in eine Richtung tendieren, die von der Schweiz zurückgewiesen werden müsste. Dies wäre beispielsweise bei einer Streckenführung der Fall, die den Kanton Tessin umfahren würde. Vgl. Prot. BR, 2. Juli 1863; Wanner, Gotthardunternehmen, S. 82; Schmidlin, Ostalpenbahnfrage, S. 81.
2 Vgl. Koller/Schmidlin/Stoll, Gotthardbahn; Die Gotthardvereinigung, Absatz 4.
3 Vgl. Beckh/Gerwig, Rentabilität; Die Gotthardvereinigung, Absatz 4.
4Ein entscheidender kommerzieller Vorteil für den Gotthard wurde in den Verkehrsverhältnissen erkannt. So sei etwa der Lokalverkehr ein wichtiger Faktor, da die Mehrzahl der Kantone und vier Fünftel der Schweizer Bevölkerung auf den Gotthard angewiesen seien. Darüber hinaus erschliesse der Gotthard stark industrialisierte und im Handel tätige Regionen (Baden, Elsass, Pfalz, Belgien, Holland). Schliesslich bilde der zentrale Alpenpass die kürzeste Verbindung zwischen Grossbritannien, Italien und dem Orient.Vgl. Koller/Schmidlin/Stoll, Gotthardbahn, S. 128–130.
5In technischer Hinsicht ergeben sich einige Vorteile für den Gotthard: So liege der höchste offen erreichte Punkt der Gotthardvariante A (Flüelen–Göschenen–Airolo–Biasca) um 115 m tiefer als beim Lukmanier. Dasselbe gelte für den Kulminationspunkt, welcher gegenüber dem Lukmanier um 120 m tiefer zu liegen komme. Was hingegen die Länge des Tunnels betreffe, schneide das Gotthardprojekt (14,8 km) im Vergleich mit dem Lukmanierprojekt (12,7 km) schlechter ab, und auch die Bauzeit werde beim Gotthard mit 15 bis 16 Jahren höher veranschlagt als beim Lukmanier (14 Jahre). Vgl. Beckh/Gerwig, Rentabilität, S. 85–87.
6Zu den Baukosten nach Beckh/Gerwig Alfred Escher an Karl Schenk, 3. März 1864, Fussnote 5.
7Am 19. Februar 1865 fand im Casino in Bern eine Versammlung zur Besprechung der Grimselbahnfrage statt, an welcher ein permanentes Grimselbahnkomitee gewählt wurde.Vgl. Intelligenzblatt für die Stadt Bern, 21. Februar 1865. – Zum Grimselprojekt Josef Zingg an Alfred Escher, 19. Juli 1863; Die Gotthardvereinigung, Absatz 11.
8Der Bundesrat ernannte den Basler Ständerat August Stähelin-Brunner (1812–1886), Nationalrat Joachim Heer sowie den Schweizer Generalkonsul in Leipzig, Hans Caspar Hirzel-Lampe (1798–1866), zu Bevollmächtigten für die Unterhandlungen über einen Handelsvertrag mit dem Deutschen Zollverein. Vgl. Aus den Verhandlungen des schweiz. Bundesrathes (vom 6. Februar 1865), in: BBl 1865 I, S. 139.
9 Johann Karl Kappeler (1816–1888), Ständerat (TG), Präsident des Eidg. Schulrates, Verwaltungsrat der Schweizerischen Nordostbahn und der Thurgauischen Hypothekenbank.
10 Vgl. Jung, Aufbruch, S. 853–913.