Mein lieber Freund!
In einer außerordentlichen Weise von Geschäften aller Art gefangen gehalten wird es mir erst jetzt möglich, auf Deine werthen Zeilen v. 18. dß. zu antworten.
Du scheinst mit Beziehung auf die Alpenbahnfrage den Wunsch zu hegen, daß dem Bundesrathe in der nächsten Zukunft erspart werden möchte, in Sachen einen materiellen Entscheid zu fassen. Wenn die Sache nicht darunter leidet, so finde ich diesen Wunsch vollkommen berechtigt. Ich erkläre ihn durchaus nicht etwa, wie etwa Übelwollende es thun möchten, mit dem Bestreben des Bundesrathes, | die Sessel zu assecuriren: ich übersehe durchaus nicht, daß der Bundesrath von der edlern Erwägung, daß es neben der Alpenbahnfrage noch eine Menge anderer Angelegenheiten gibt, die man in Folge jener Frage so wenig als möglich in ein schiefes Geleise gelangen lassen darf, geleitet werden kann. Dieser Verschiebungstendenz dürfte durch den Schritt Vorschub geleistet werden, den der Gotthardtausschuß gegenüber dem Bundesrathe zu thun beschlossen hat & der wohl bereits seine Vollziehung gefunden haben wird.1 Wenn Italien auf eine Anfrage des Bundesrathes erklärt, daß das Ministerium seine Vorlagen an das Parlament in der Alpenbahnfrage noch nicht berathen, sondern weitere Mittheilungen, welche ihm Schweizerischer Seits in Aussicht | gestellt worden, abwarten werde2, so dürfte der Sache unbeschadet eine Verschiebung der materiellen Behandlung der Alpenbahnangelegenheit ab Seiten des Bundesrathes Statt finden können. Nachdem für eine Recharge an den Bundesrath mit Beziehung auf unsere Zuschrift von letzthin3 bereits so viel als Einstimmigkeit im Gotthardtausschusse vorhanden gewesen, habe ich die Abordnung an den Bundesrath, die sich mittlerweile bei Dir eingefunden haben wird, beantragt, gerade um dem Bundesrathe die Möglichkeit der Verschiebung einer materiellen Entscheidung ohne Nachtheil für die Sache zu ermöglichen. Der Ausschuß entschied sich schließlich einmüthig für meinen Antrag.4 Was nun aber die andere Form der Verschiebung anlangt, gemäß welcher | der Bundesrath erst auf Grundlage von Conzessionen, welche die Cantone für Alpenbahnen ertheilt, mit dem Auslande in Unterhandlung treten zu wollen erklären würde, so würde ich, bessere Belehrung vorbehalten, dieses Auskunftsmittel für sehr bedenklich halten. Es würde gemäß demselben die Entscheidung der Frage in die Hand des Grossen Rathes von Tessin, dem Conzessionsbewerbungen vorzulegen wären, gelegt.5 Wohl ist es nicht nöthig, Dich auf das Heer von Inconvenienzen aufmerksam zu machen, welche ein solches Verfahren in seinem Gefolge hätte. Daß Uri & Tessin die Conzession für eine Gotthardtbahn ertheilen würden, könnte wohl bei den Unterhandlungen mit Italien als eine unzweifelhafte Thatsache vorausgesetzt werden. Wenn hin| wieder die Conzessionirung einer Lucmanierbahn durch den Großen Rath von Tessin als weniger gewiß bezeichnet werden müßte, so wäre dieß nicht gerade ein Nachtheil. Übrigens kann ich mit Fug meine daherigen Betrachtungen abbrechen, da ich hoffe, es werde durch die vom Gotthardtausschusse gewünschte Anfrage bei Italien & die hierauf erfolgende Antwort Dein Verschiebungswunsch in Erfüllung gehen.
Die Wahlen im 2., 3. & wohl auch 4. Wahlkreise dürften einen lebhaften Character annehmen.6 Im 2. & 3. Wahlkreise scheint die Alpenbahnfrage eine große Rolle spielen zu sollen. Wenn darüber nur nicht die politischen Fragen allzu sehr in den Hintergrund gedrängt werden! So drängt sich Dr. Wille7 im 2. Wahlkreise stark hervor, dessen Brochüre in | der Savoyerangelegenheit8 Du Dich wohl noch erinnerst. Gewiß wäre es sehr am Platze, wenn Du mit Beziehung auf diese Persönlichkeit einen Wink an Deine Freunde im 2. Wahlkreise gelangen ließest. Ich habe meinerseits auch gethan, was möglich war. – Über Deine Wahl im 1. Wahlkreise ist Alles einverstanden.9 Es scheint hier keine Vorversammlung gehalten zu werden, vielleicht gerade, weil man annimmt, man sei über die Wahlliste einig. Indessen hätte mir die Veranstaltung einer Vorversammlung doch am Platze zu sein geschienen: es wäre immerhin die Beurkundung etwelchen Interesses am Wahlacte gewesen!
So eben komme ich aus dem Eidg. Schulrathe, welcher anläßlich des Bezuges des neuen Polytechnicums eine Erhöhung des Credites für dasselbe auf den | Betrag von Fr. 250 /m vorschlägt. Das Begehren ist gewiß sehr leicht zu rechtfertigen. Auch scheint mir eine Gesammtausgabe der Eidgenossenschaft v. Fr. 250 /m für Unterrichtszwecke nicht übertrieben. Der Zeitpunct endlich ist gewiß nicht ungeeignet. Das schöne Gebäude soll nun bezogen werden & die bei der Juragewässercorrection betheiligten Cantone werden dem Creditbegehren schicklicher Weise nicht entgegentreten können.10
Deinen gef. Rückäußerungen entgegensehend verbleibe ich mit freundschaftlichem Gruße
Dein
A Escher
Zürich
21 Oct. 63.
Kommentareinträge
1 Am 19. Oktober 1863 beschloss der Ausschuss der Gotthardvereinigung, eine aus Josef Zingg und Karl Schenk bestehende Abordnung mit dem Anliegen an den Bundesrat zu senden, er möge Italien um eine Verschiebung der Behandlung der Alpenbahnfrage im Parlament ersuchen, da «von schweizerischer Seite in bälde wichtige Mittheilungen zu gewärtigen seien» . Prot. Ausschuss Gotthardvereinigung, 19. Oktober 1863. Vgl. NZZ, 23. Oktober 1863.
2Die italienische Gesandtschaft hatte dem Bundesrat bereits am 11. Juni 1863 erklärt, dass die italienische Regierung in der Alpenbahnfrage noch keinen definitiven Beschluss gefasst habe.Jakob Dubs an Alfred Escher, 18. Oktober 1863, Fussnote 7.
3Gemeint ist die im Kommentar des Briefes von Dubs an Escher vom 18. Oktober 1863 erwähnte Eingabe des Ausschusses der Gotthardvereinigung an den Bundesrat vom 29. September 1863. Jakob Dubs an Alfred Escher, 18. Oktober 1863, Fussnote 5.
4Gemeint ist die bereits erwähnte, am 19. Oktober 1863 beschlossene Abordnung des Ausschusses der Gotthardvereinigung an den Bundesrat.
5Die Kompetenz zur Konzessionierung von Eisenbahnunternehmen oblag gemäss Art. 2 des Eisenbahngesetzes von 1852 den Kantonen. Weichenstellung zum Eisenbahnland Schweiz, Das Eisenbahngesetz von 1852.
6Am 25. Oktober / 8. November 1863 fanden im Kanton Zürich Nationalratswahlen statt. Eine Übersicht über die Kandidaten und über die Ergebnisse ist der NZZ zu entnehmen. Vgl. NZZ, 23. Oktober 1863, 26. Oktober 1863, 14. November 1863.
7 François Wille (1811–1896), Gutsherr auf Mariafeld (Meilen), verfasste als Anhänger des demokratischen Lagers politische Schriften; Vater des späteren Generals Ulrich Wille.
8 Wille schrieb eine Broschüre unter dem Titel «Die Nationalrathswahlen von 1860. Eine Ansprache an das Zürcher Volk». Darin kritisierte er die von Escher und insbesondere auch die von Dubs eingenommene Haltung im sogenannten «Savoyer Handel». Vgl. Wille, Nationalrathswahlen 1860; Jung, Aufbruch, S. 938–949.
9Dubs wurde in den Nationalratswahlen vom 25. Oktober 1863 wiedergewählt.Vgl. NZZ, 26. Oktober 1863.
10 Vgl. Jung, Aufbruch, S. 853–913.