Luzern (Schweizerhof)
1 September 1863.
Mein lieber Freund!
Für Deine letzthinigen Mittheilungen1 bin ich Dir sehr verbunden.
Es läßt sich wiedereinmal ein schöner Chor des Unsinns vernehmen gegen eine so natürliche Sache, wie die Vereinigung zum Zwecke der Anstrebung einer Gotthardbahn doch ohne Zweifel genannt werden darf. 2 In diesem harmonischen Conzerte läßt sich auch das Centralorgan der Helvetia3, der Baslervolksfreund4 in schönster Weise vernehmen. Es freut mich & ich begreife es, daß den Patronen des Rückkaufes5 die angebahnte Vereinigung ungelegen kömmt. Es droht ihnen damit das in der That beste Ar| gument für den Rückkauf der Eisenbahnen abhanden zu kommen.6
Ich bin auf die Stellung gespannt, welche Bern abschließlich in dieser Angelegenheit einnehmen wird. Es muß sich dieß schon anläßlich der Genehmigung der Übereinkunft durch die Regierung von Bern zeigen.7 Wenn Du mir hierüber einige Mittheilungen machen könntest, so wäre ich Dir sehr verbunden.
Es will mir scheinen, es wäre sehr wünschbar, daß der Gesandtschaftsposten in Turin8 bald besetzt werde. Gerade die Alpenbahnfrage scheint mir dieß dringend zu erheischen. Man spricht von Vorlagen, welche die Italienische Regierung schon im künftigen November dem Parlamente über diese Angelegenheit zu unterbreiten gedenke.9 Da sollte doch in der nächsten Zeit schon | ein Schweizerischer Gesandter in Turin seine Wirksamkeit entfalten. Wenn in einem solchen Augenblicke der Gesandtschaftsposten der Schweiz in Italien unbesetzt bleibt, so muß man sich nicht wundern, wenn Stimmen laut werden, es sei Derselbe etwas Überflüssiges. Ich kann nicht begreifen, wie Abwesenheiten eines Mitgliedes des Bundesrathes, um Zollbureaux zu inspiziren10 oder um eine Vergnügungsreise zu machen (Näff)11, die Unterlassung einer im gegenwärtigen Augenblicke so wichtigen Wahl sollen rechtfertigen können!! Der Kaiser von Österreich12 wäre gegenwärtig wohl auch lieber anderwärts als in Frankfurt & doch weilt er in dieser Stadt, weil die gegenwärtigen Conjuncturen der Politik es nothwendig machen.13 |
Die letzte Sitzung des Schulrathes hat mich davon überzeugt, daß wir uns letzthin nicht irrten, als wir dahin übereinkamen, ich sollte in der Commission betreffend das Verhältniß von Hochschule & Polytechnicum eine entgegenkommende Stellung einnehmen. Pictet de la Rive14 ist voll Eifersucht gegen die Hochschule von Zürich & Studer15, der auf sehr gutem Fuße mit ihm steht, hat die Stellung, die er bisanhin in diesen Fragen eingenommen, auch etwas modifizirt. Der Schulrath hat den Commissionalantrag, der auf dem Dir bekannten Compromisse beruht, angenommen. 16
Ich werde noch bis & mit Donnerstag hier sein. Dann reisen wir mit Hrn. & Frau Fierz17 über den Gotthard, Tessin & die Italienischen Seeen nach Mailand.18 Würdest du mir noch Mittheilungen zukommen lassen wollen, so träfen sie mich bis Donnerstag (incl. ) hier. Zwischen dem 15. & 20. dß hoffe ich wieder in Zürich einzutreffen.
Mit freundschaftlichem Gruße Dein
A Escher
Kommentareinträge
1Brief nicht ermittelt.
2Diverse Presseorgane äusserten sich kritisch zur Gotthardvereinigung, welche sich am 7./8. August 1863 in Luzern konstituiert hatte. Vgl. Gagliardi, Escher, S. 450–453.
31832 gegründete Studentenverbindung radikal-demokratischer Ausrichtung.Vgl. HLS online, Helvetia (Studentenverbindung); HBLS IV, S. 137; Jung, Aufbruch, S. 101.
4 Vgl. beispielhaft Schweizerischer Volksfreund und Tagblatt der Stadt Basel, 5. August 1863, 6. August 1863, 10. August 1863, 11. August 1863, 24. August 1863.
5Der wichtigste Verfechter des Eisenbahnrückkaufs durch den Bund war Jakob Stämpfli, welcher Ende 1862 mit einer Schrift unter dem Titel «Rückkauf der schweizerischen Eisenbahnen» an die Öffentlichkeit getreten war. Vgl. Stämpfli, Rückkauf; Jung, Aufbruch, S. 394–402; NZZ, 13. Dezember 1862, 14. Dezember 1862, 18. Dezember 1862, 19. Dezember 1862; Jonas Furrer an Alfred Escher, 7. Dezember 1859 Alfred Escher an Jonas Furrer, 11. Dezember 1859.
6In seiner Rückkaufsschrift betonte Stämpfli, dass es gerade die Alpenbahnfrage sei, welche eine Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften dringend notwendig mache, da die Finanzierung und Realisierung einer Alpenbahn durch die Partikularinteressen der Bahngesellschaften und Kantone verhindert würden. Vgl. Stämpfli, Rückkauf, S. 10.
7Der Regierungsrat des Kantons Bern genehmigte Anfang September 1863 den von der regierungsrätlichen Kommission für die Gotthardbahnangelegenheit gestellten Antrag, dem Grossen Rat den Beitritt zur Gotthardübereinkunft zu empfehlen. Im Grossen Rat kam die Gotthardübereinkunft erst am 3. Februar 1864 zur Sprache. Vgl. Volmar, Alpenbahnpolitik, S. 103–104; Intelligenzblatt für die Stadt Bern, 4. September 1863, 17. September 1863, 4. Februar 1864; Jakob Dubs an Alfred Escher, 2. September 1863; Eschers Kurswechsel und die Gotthardkonferenz von 1863, Absatz 20.
8 Nach dem Tod von Abraham Tourte (1818–1863) im April 1863 blieb die schweizerische Gesandtschaft in Turin für mehr als neun Monate unbesetzt. Erst Anfang 1864 wurde der ehemalige Tessiner Bundesrat Giovanni Battista Pioda zum Nachfolger Tourtes als ausserordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in Turin ernannt. Vgl. Altermatt, Diplomatie, S. 54–55; Altermatt, Bundesräte, S. 160; NZZ, 30. Januar 1864.
9Der engere Ausschuss der Gotthardvereinigung gelangte am 19. Oktober 1863 mit dem Begehren an den Bundesrat, er möge sich bei der italienischen Regierung erkundigen, wann diese mit den Alpenbahnvorlagen an das Parlament zu gelangen gedenke. Die italienische Regierung sei ausserdem zu ersuchen, sich in der Alpenbahnfrage nicht allzusehr zu beeilen. Der Bundesrat entsprach diesem Begehren am 23. Oktober 1863.Vgl. Prot. BR, 21. Oktober 1863; Prot. BR, 23. Oktober 1863; NZZ, 26. Oktober 1863.
10Vorsteher des Handels- und Zolldepartements im Jahr 1863 war der Aargauer Bundesrat Friedrich Frey-Herosé (1801–1873).
11 Wilhelm Matthias Näff (1802–1881), Bundesrat (SG). Näff stand im Jahr 1863 dem Postdepartement vor.
12 Franz Joseph I. (1830–1916), Kaiser von Österreich.
13Kaiser Franz Joseph I. war Vorsitzender des in Frankfurt am Main abgehaltenen Fürstentages, welcher über die Zukunft des Deutschen Bundes beriet. Vgl. Lenger, Revolution, S. 297.
14 François-Jules Pictet-De la Rive (1809–1872), Grossratspräsident (GE), Professor für Zoologie und Paläontologie.
15 Bernhard Studer (1794–1887), Professor der Mineralogie und Geologie an der Universität Bern.
16 Vgl. Jung, Aufbruch, S. 853–913.
17 Anna Katharina Fierz-Locher (1827–1903), Tochter der Katharina Locher-Waldburger und des Stickereiindustriellen Bartholomäus Locher; ab 1845 Ehefrau von Johann Heinrich Fierz.
18Escher verbrachte im Spätsommer 1863 mit seiner Frau Augusta Escher-Uebel einen Erholungsaufenthalt in Luzern und reiste anschliessend über den Gotthard nach Mailand. Diese Reise wurde in der Presse verschiedentlich als Dienstreise in Gotthardsachen interpretiert. Vgl. beispielhaft Neue Glarner-Zeitung, 17. September 1863; NZZ, 22. September 1863; Alfred Escher an Johann Jakob Blumer, 11. / 12. Oktober 1863.