Lieber Freund.1
Ich habe seit meiner Rükkehr nach Paris2 so wenig vernehmen können, wie bei uns die Stimmung ist, betreffend die Frage, ob man sich zu irgend welchen Schritten geneigt fände, welche uns mit Frankreich in beßere Beziehungen zu bringen geeignet wären, daß ich nicht unterlaßen kann, mich mit diesen vertraulichen Zeilen an dich zu wenden, um dich anzufragen, wie es dießfalls in unsrer Bundesversammlung aussieht. –
Wir haben zwei Alternativen vor uns. Wir können einfach in jeziger exspectativer Stellung wie man es nennt bleiben. Folge davon ist, daß bald durch diese bald durch jene Veranlaßung Conflikte provozirt werden u. daß – da man es hier als eine positive Willensmeinung auffaßt, mit Frankreich durchaus auf gespanntem Fuß bleiben zu wollen – die Wahrung unsrer Handels- u. Industrieintreßen durch einen Handelsvertrag fort u. fort auf die lange Bank geschoben wird!3 –
Das Bedenklichste aber von dieser Alternative liegt darin, daß im Fall einer europäischen Conflagration4 ja sogar bei einer bloßen militärischen Grenzbesetzg wir gar leicht in einen bewaffneten Conflikt mit Frankreich gerathen könnten, trozdem daß eigentlich die große Mehrheit von Volk & Behörden bei uns für Festhalten an der Neutralität ist. Wie leicht könnte z. B. | dadurch, daß jeder Theil das Dappenthal militärisch besezen möchte im Fall eines Krieges der eine Neutralitätsarmee an die Grenze riefe, ein bewaffneter Zusammenstoß die Neutralitätspolitik verdrängen? Ich habe schon 1859 vor dem italienisch. Kriege5 auf diese Gefahren den Bundesrath aufmerksam gemacht u. sehr eindringlich gerathen eine Uebereinkunft für einen modus vivendi6 abzuschließen. Man zog vor, die Sache liegen zu laßen. – Es scheint mir, man sollte sich wenigstens die Frage aufwerfen: Will man einfach betreffend d Dappenthal- u. die Savoyer frage auch fernerhin zuwarten, u. Alles dem Schicksal u. der Zukunft überlaßen? –
Die andere Alternative ginge dahin; wenn möglich, über die streitigen Fragen, sei es ein definitives oder aber doch ein einen modus vivendi genau normirendes arrangement zu erzielen. Ersteres würde jezt schwer halten, lezteres, so fern man wirklich die Absicht hat, mit Frankreich in ein beßeres Verhältniß zu kommen, halte ich nicht für unmöglich. In der gehe ich einig mit der nationalräthlichen Commißion. Keine Geldentschädigung; aber doch eine Verständigung die beßer ist, als der Status quo7 u. neuen Conflikten zuvorkäme. –
Ließe sich nicht dieser Anlaß benuzen, gleichzeitig auch über die Savoyer frage eine Verständigung zu versuchen. Freilich wenn man jezt noch glaubt Abtretung v. erheblichen Gebietstheilen zu erhalten, so ist es beßer, man laße die Sache liegen. | Würde man aber auf den Vorschlag den 1860 Harris8 Herrn Dela Rive9 u. mir bei einem Besuche auf seinem Landgute gemacht hat, eingehen wollen, so möchte ich eine Verständigg nicht von vornherein für ganz unmöglich halten. Der Vorschlag10 ging dahin 1) durch Abtretung der Strecke v. Meillerie am Genfersee bis St. Gingolph an der Walliser grenze, ferner durch Rectifikation der Grenze längs dem C. Genf u. auf dem Gebirgsrüken, der Wallis vom Chablais trennt, gewiße militärische Vortheile für die Schweiz zu erhalten 2) Beschränkung des Neutralitätsgebiets in Savoyen auf eine militärisch paßende Linie die vermuthlich nicht über Chablais hinausginge u. Neutralisirung des Genfersees. 3) daß als eine provisorische Uebereinkft, bis mit Zustimmung der zunächst betheiligten Staaten u. der Großmächte eine definitive Regulirung möglich würde; (ein provisorium das factisch allerdings ein definitivum würde.) 4) Erneuerte Verpflichtung Fkreich zu Anerkennung & Achtung der schweizersch. Neutralität u. deren Inviolabilität des gesammten Gebietes der Schweiz. – Immerhin nicht zu verachten, wenn man weiß, daß Frkreich die 1815-er Verträge zu vernichten, als seine Politik erklärt. –
Mit dieser Reglirung der Savoyer frage, müßte Hand in Hand gehen Reglirung der Dappenthalfrage auf Grundlage der Negotiationen v. 1856 u. 1857. –
Statt Geld, Ausgleichungen an der Savoyer grenze. –
Daß von hier aus solche Propositionen nicht gemacht werden, das ist ganz sicher, u. erklärlich, nachdem man von unsrer Seite jede direkte Verhandlgen u. namentlich auch Propositionen in obigem Sinne | (freilich damals für definitive Reglirung) entschieden von der Hand gewiesen hat. Würden aber Propositionen von uns aus direkte an Frankreich gelangen, annähernd in obigem Sinn, so möchte ich nicht einen Erfolg in bestimmte Aussicht stellen; aber man würde hier wenigstens entgegenkommen u. einen Versuch zur Verständigg nicht von vornherein zurükweisen. Der Umstand, daß gleichzeitig die Dappenthalfrage zur Verhandlg gebracht würde, gäbe der Schweiz einen Anhaltspunkt auf direkte Unterhandlgen überzugehen; wenn nicht schon die Erfolglosigkeit aller Schritte bei den andern Mächten sie hinreichend belehrt hat, daß von leztern nichts zu erwarten ist. –
Die sogenannte «exspectative Politik» wie man sie nannte, ist zwar die bequemste; aber am Ende ist sie nichts anders, als anstatt drohende Gefahren für unsre Neutralität in Friedenszeiten abzuwenden, diese Gefahren bis zum Beginn eines Krieges fortdauern zu laßen u. dann dem Drängen des Sturmes folgen in der Richtung nach welcher er am gewaltigsten treibt!!! – Diese so bequeme Politik ist daher – das soll man sich nicht verhehlen – zugleich auch eine sehr gefährliche Politik, ganz abgesehen davon, daß auch im Hinblick auf unsre materiellen Intreßen eine freundschaftliche Verständigg – wäre es auch nur über einen modus vivendi in beiden Fragen – auf alle andern Beziehungen zu Frankreich eine vortheilhafte Rükwirkung ausüben würde.|
Ehe nun aber irgend welche Anträge im Sinne der zweiten Alternative nur zur Sprache gebracht werden können, sollte man doch wenigstens einigermaßen das terrain kennen, sollte sich ein Urtheil darüber bilden können, ob diselben irgend welche Aussicht auf etwelchen Erfolg hätten, oder ob bei uns immer noch die Ansicht vorherrschend ist, ruhig zuzuwarten, wie sich die Sache in Zukunft gestalten möge. «Laissez aller»! – –
Denn es ist weit beßer, Alles dieß ruhen zu laßen, als Fragen im Sinn der zweiten Alternative anzuregen, wenn in der Bundesversammlung, vielleicht sogar schon im Bundesrath, die Majorität entschieden dagegen ist. Jede Beseitigung solcher Anregungen wird bei unsern Zuständen sofort bekannt u. dann würde durch solche Verwerfung auch jedes Versuches zu einer gütlichen Verständigung sogar über einen bloßen modus vivendi (für Dappenthal- und Savoyer fragen zugleich.) die Stellung zu Frankreich nur verschlimmert. Gerade deßhalb, finde ich mich bewogen, mich mit diesen ganz vertraulichen Zeilen mich an dich zu wenden u. dich zu bitten, mir einigen Aufschluß zu geben wie du in Bezug auf oben berührte Hauptalternative, Gehen laßen, oder Versuch zu direkter gütlicher u. gleichzeitiger Erledigg beider hängender Fragen ; in Bern die Stimmung findest, sowohl bei den Mitgliedern der Bundesversammlung, als auch des Bundesrathes. Ich erlaube mir um so mehr | mit dieser Frage an dich mich zu wenden; da ich ja hiebei nichts anders als die wohlverstandenen Intreßen unsers Landes im Auge habe, was ja auch bei dir, wie ich wohl weiß, immer der Fall ist. – Ich füge obiger Auseinandersetzung noch bei, daß, wenn man zu direkten Negotiationen überzugehen geneigt ist, ja man füglich zuerst offiziös sondiren laßen könnte, wie solche aufgenommen würden. Daß man, wenn die Fordergen den jezigen Stand der Dinge, der eine Abtrennung erheblicher Gebietstheile unmöglich macht, Rechnung tragen, in dießfällige pourparlers einzutreten geneigt wäre, habe ich allen Grund anzunehmen; eben so bestimmt aber; daß von hier aus keinerlei neuen Propositionen in der Savoyer frage mehr erfolgen. –
Du wirst wohl denken, ich sollte solche renseignements über die bei uns waltende Stimmung eher beim Bundesrath nachsuchen, als bei dir. Es scheine dieß in erster Linie geschehen zu sollen. Ich will dir offen sagen, warum es nicht geschehen kann. Das Natürlichste wäre, dieselben durch vertrauliche Anfragen bei dem Presidenten des Bundesrathes11 nachzusuchen. Nun aber habe ich leztes Jahr die Erfahrung gemacht, daß mir das Presidium auf konfidentielle Anfragen gar nicht geantwortet hat u. daß ich gewiße Mittheilungen der französch Regierg welche an das Presidium erfolgten u. von denen Thouvenel12 voraussezte, daß man mir sie werde gemacht haben, erst erhalten konnte; nachdem ich | solche in Folge der Eröffnungen Thouvenels vom Bundesrath förmlich verlangt hatte. – Als ich im Dezember Knüsel13 in einem vertraulichen Schreiben anfragte, ob er nicht glaube, ich sollte den Entstellungen der Débats in der Preße od.; wenn meine Widerlegung in einem Pariser Journal keine Aufnahme fände, durch eine kleine Broschure entgegentreten, erhielt ich auf diese Anfrage gar keine Antwort! Ich handelte dann auf eigne Faust, wie ich es im Intreße der Schweiz für nöthig fand, & habe dir die bezüglichen Artikel sans bande adreßirt: daraus, daß Mitglieder des Bundesrathes die mir in andern Angelegenheiten Briefe zu schreiben in den Fall kommen u. von denen ich annehmen darf, daß sie meine Ansichten eher theilen jede Aeußerung über die Stimmung des Bundesrathes sorgfältig vermieden haben, glaubte ich schließen zu sollen, daß sie aus gewißen collegialischen Rüksichten u. um nicht Mißtrauen zu provoziren direkte Mittheilungen v. ihrer Seite ausweichen. Auch Furrer war hierin sehr vorsichtig u. ängstlich u. ich kann dieß leicht begreifen. – Du siehst, ich war so zu sagen genöthigt, dich zu bemühen, wenn ich überhaupt konfidentiell soll erfahren können, was ich im Intreße des Landes zu erfahren für durchaus nothwendig erachte. Noch füge ich bei, daß ich nicht das mindeste Bedenken hätte, im Sinn der zweiten Alternative eine Anregung offiziell beim Bundesrath zu machen; sobald irgend die | Stimmung in den Behörden so ist, daß sie etwas nüzen könnte; denn ich scheue mich nicht zur Ueberzeugung zu stehen. Eine andre Frage ist aber, ob dieß der beste Weg wäre. Kommt die Anregung von mir, so wird man von gewißer Seite sogleich den Verdacht haben; ja das rühre aus den Tuillerien od. aus dem Palais royal her, obgleich es rein meine Initiative ist, u. gerade deßhalb nichts davon hören wollen!! Es wäre daher beßer, die Frage der direkten Unthandlgen über beide bezeichneten Hauptfragen zugleich, würde im Bundesrath selbst v. einem Mitglied zur Sprache gebracht, so fern nämlich in lezterm u. in der Bundesversammlung einige Aussicht ist, daß man darauf einzugehen geneigt wäre. Aeußerungen v. Fazy14, der mich hier im Dezemb. besuchte, scheinen mir anzudeuten, als ob er einer solchen gleichzeitigen u. direkten Unterhandlgen nicht entgegen sei! –!
Ich habe nicht nöthig, dir zu sagen, wie sehr ich betreffend diese Confidentiellen Mittheilungen auf deine mir bekannte größte Diskretion zähle, da du ja wohl weißst, wie leicht man gewißen Ortes Verdacht schöpft, auch da, wo nichts als aufrichtige Sorge für die Intreßen des Landes einen Schritt veranlaßen, wie es hier der Fall ist. – Ein bloßes «laisser aller wäre ja für mich persönlich gar eine bequeme Politik:»
Ich habe mich für die Sache, aber auch für Dich u. deine unermüdliche Thätigkeit höchlich geärgert, über den unbegreiflichen Beschluß des Luzerner Gr Rathes. Könnte man ihm nicht eine Brüke bauen um zur Vernunft zurükzukehren indem z. B. die Stdt Luzern sich anerböte, einen Drittheil eines allfälligen Defizits auf dem Betheiligungscapital des Staates zu übernehmen? – Grüße mir meine nähern dir wohlbekannten Freunde, die auch die deinigen sind und bleibe meiner aufrichtigen, unwandelbaren Freundschaft versichert.
Dein
Kern.
Kommentareinträge
1Datierung gemäss Archivnotiz. – Nachträgliche Notiz oben rechts auf Seite 1 von dritter Hand: «Paris den 19 | Januar 1862.»
2Johann Konrad Kern hatte im Juli 1861 Urlaub erhalten und war in die Schweiz zurückgekehrt. Vgl. NZZ, 21. Juli 1861.
3Kern hatte bereits im April 1861 Vorkehrungen für Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit Frankreich und die Abschaffung der Passvisa getroffen. Vgl. Schreiben Johann Konrad Kern an BR, 26. März 1861, in: DDS I, S. 836–837; Schreiben Johann Konrad Kern an BR, 2. April 1861, in: DDS I, S. 839–842; Johann Konrad Kern an Alfred Escher, 2. April 1861; Schoop, Kern, S. 265–272.
4Von conflagratio (lat.): Brand, Verbrennung; hier im Sinne von Flächenbrand, Inferno.
5Zweiter italienischer Unabhängigkeitskrieg 1859: sardisch-piemontesischer Krieg gegen Österreich mit Frankreich auf der Seite von Sardinien. Napoleon III. und Camillo Benso di Cavour, der Premierminister des Königreichs Sardinien-Piemont, hatten am 21. Juli 1858 in Plombières-les-Bains eine geheime Abmachung getroffen, wonach Frankreich sich mit Piemont gegen Österreich verbünden würde, um diesem die Eroberung Oberitaliens und der mittelitalienischen Herzogtümer zu ermöglichen. Voraussetzung dafür war ein Kriegseintritt Österreichs. Kern erfuhr dies erst ein halbes Jahr später. Vgl. Schoop, Kern, S. 189–200; Monnier, Savoie, S. 33–44; Guichonnet, Savoie, S. 391–397.
6Modus vivendi (lat.): Art zu leben; übertragen: Übereinkunft.
7Status quo (lat.): Zustand, in dem sich etwas befindet. – Zum damals aktuellen Stand in der Dappentalfrage vgl. Noten, betreffend die Gebietsverlezung im Dappenthal (vom Dezember 1861 und Januar 1862), in: BBl 1862 I, S. 309–315; Zur Schweizer Aussenpolitik und Aussenhandelspolitik der 1850er und 1860er Jahre, Dappentalangelegenheit 1861/62.
8 Edward Alfred John Harris (1808–1888), ausserordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister Englands in Bern.
9 Auguste De la Rive (1801–1873), Physiker, Verfassungsrat (GE), ehemaliger ausserordentlicher Gesandter in London (1860).
10 Vgl. Brief Johann Konrad Kern an Friedrich Frey-Herosé, 30. November 1860, in: DDS I, S. 804–807.
111862 war Jakob Stämpfli Bundespräsident, 1861 Josef Martin Knüsel. Vgl. Altermatt, Bundesräte, S. 143–148, 153–156.
12 Edouard Thouvenel (1818–1866), französischer Staatsmann und Aussenminister.
13 Josef Martin Knüsel (1813–1889), Bundesrat (LU).
14 James Fazy (1794–1878), Nationalrat (GE).