Bern den 31. Oct. 1861.
Mein lieber Freund!
Wahrscheinlich interessirt es Dich, über die neuste Verwicklung mit Frankreich im Dappenthal etwas Näheres zu hören. Es ist Dir wahrscheinlich bekannt, daß der Kt. Waadt bisdahin die Hohheitsrechte in diesem Thal in Anspruch genommen &. ausgeübt hat, wobei immerhin bisweilen auch französischer Seits dann &. wann hineingegriffen wurde &. überhaupt von dieser Seite die Hohheit des Kts Waadt nicht anerkannt war.
In neuerer Zeit vernahm nun der Bundesrath zuerst, es haben die Gensdarmen des benachbarten franz. Postens erklärt, sie haben Auftrag bekommen, die Waadtländer an fernerer Ausübung der Justizhohheit gewaltsam zu hindern &. zu diesem Behuf die Mannschaft des Fort les Rousses in Anspruch zu nehmen. Der BR. wollte auf das Gensdarmeriegeschwätz keine Schritte thun, sondern avisirte darüber nur Herrn Kern.|
In den letzten Monaten hatten die Waadtländer Gensdarmen im Dappenthal einige Jagdfrevler verfolgt &. es entstanden dabei Thätlichkeiten mit den Jägern. Auch war ein Mann, der im Dappenthal eine Frau mißhandelt hatte, in Nyon bestraft &. der Polizei zur Fahndung aufgegeben worden.
Vor ca 8–10. Tagen kam nun M: Turgot zum Bundespräsidenten &. machte ihm die mündliche Mittheilung, daß das Ministerium wirklich denjenigen Befehl ertheilt habe, welcher von den Gensdarmen rapportirt worden war. Der BPräs. verlangte eine schriftliche Mittheilung, zu der sich Turgot nicht autorisirt erklärte. Der BR. beschloß dann, keine weitere Notiz von jener Mittheilung zu nehmen, wies aber gestern Waadt an, den Status quo festzuhalten.
Heute kam nun durch ein Schreiben des Staatsraths von Waadt die Mittheilung, daß wirklich ein Detaschement Truppen des Forts les Rousses mit Gensdarmerie den | Weiler Cressonières besetzt habe, um die Waadtländ. Gensdarmerie zu verhindern, dortseits eine Arrestation vorzunehmen. Dabei erlaubten sich die Soldaten einige Exzesse, sie nahmen einige Cigarren &. dgl. Dieß geschah am 28. Oct. Das Nähere werden die Zeitungen bringen.
Der BPräs. rief sofort den Rath zusammen &. man beschloß 1. Absendung 2er Commissäre zur nähern Constatirung des Factums 2. Reklamation bei der Franz. Regierung mit dem Begehren um Rücknahme &. Satisfaction. Als spätere Schritte wurden vorläufig angekündigt vom Herrn Präsidenten: eine Protestation bei den Wiener kongreßmächten, von Herrn Stämpfli: gewaltsames Zurücktreiben, von Herrn Fornerod: eine allgemeine Beschwerde an die Kongreßmächte über die neuen Vexationen Frankreichs. Wahrscheinlich wird es beim Erstern sein Bewenden haben.
Die Position Frankreichs ist die, daß es verlangt, es solle kein Theil Hohheitsakte in dem bestrittenen Thal ausüben, wodurch wir freilich aus dem Besitz entsetzt würden: abgesehen noch von andern Schwierigkeiten, | welche die Schöpfung einer solchen Freistatt mit sich brächte. Wir sagen: Festhaltung des Status quo allfällig mit einem provisorischen modus vivendi, dessen Regulierung aber seine großen Schwierigkeiten haben dürfte. Ich sprach vor einiger Zeit mit Turgot über die Frage. Er sagte mir, er wünsche diese Frage noch vor Neujahr zu regeln, weil nach Neujahr sich darüber nicht mehr verkehren lasse mit dem dannzumaligen Präsidenten. Ich bemerkte ihm, es scheine mir unmöglich, diesen alten Streit so rasch abthun zu können &. mittlerweile müssen wir am Status quo festhalten.
Die Hauptfrage ist aber natürlich die: was will Frankreich mit diesem neuen Handel; warum jetzt auf einmal dieses gewaltthätige Auftreten?
Darauf kann es verschiedene Antworten geben. Die St. Partei sagt: es ist die Einleitung zu einem großen bewaffneten Konflikt; man häuft vorläufig Beschwerden. Unmöglich ist das nicht. Eine gereizte Stimmung | scheint in den gouvernementalen Kreisen gegen die Schweiz vorzuwalten.
Auf der andern Seite will mir das doch nicht recht einleuchten. Es mag schon sein, daß eine Partei in Frankreich annexionist. Absichten auf einzelne Gebietstheile der Schweiz hat. Allein sehr nahe scheint mir denn doch diese Gefahr nicht zu sein. Frankreich kann doch die Schweiz nicht mitten im tiefsten Frieden überfallen &. wenn es Kriege mit andern Mächten vor hat, so wird es schwerlich gleichzeitig mit der Schweiz anbinden wollen.
Es wollte mir sogar sehr scheinen, Frankreich wolle mit diesem neuen Handel mehr die Aufmerksamkeit von den andern Händeln ablenken, in welchen es den Rückzug angetreten hat. Die Versetzung Grandguillots, die Erklärung im heutigen Moniteur über die Stellung der offiziösen Blätter, das uns von ziemlich zuverläßiger Seite mitgetheilte Gerücht, daß Napol. in der Villa la Grand Affaire sehr nachgiebig gestimmt sei – sind eher Anzeichen | einer friedlichern Gesinnung. Das Dappenthal ist hinwieder ein Punkt, wo man ohne besondere Gefahr ein bischen mit einander streiten kann.
Aber Alles das ist bloße Conjektur. Wir werden den weitern Gang der Dinge abwarten müssen. Ich denke indeß, Du werdest ebenfalls damit einverstanden sein, daß wir um dieser Sache willen noch nicht zu Truppenaufgeboten schreiten. Oder was denkst Du von der Sache? Es wäre mir werthvoll, Deine Ansicht kennen zu lernen.
Inzwischen grüßt Dich freundschaftlich
Dein
Jb. Dubs.