Zürich 17 April 1860.
Mein lieber Freund!
Ich bin Dein Schuldner für 31 Briefe , die mich im höchsten Grade interessirt haben & die ich jeweilen Rüttimann & Dubs mittheilte, überzeugt, damit Deinen Wünschen gemäß zu handeln.
Wir freuen uns alle drei darüber, daß der Bundesrath den unsinnigen Stürmereien der Helvetia 2 oder vielmehr ihres Meisters3 widersteht. Wenn auf einem Congresse ein Arrangement in der Weise, wie Du es, gestützt auf die Mittheilungen de la Rive's4, in Deinem Briefe vom letzten Samstag in Aussicht stellst, zu Stande kömmt, so wird die weit überwiegende Mehrheit des Schweizervolkes zufrieden sein & es wird nur einer gewissen besondern Geistesrichtung vorbehalten sein, über das Ergebniß zu schimpfen, wie sie über die Erledigung der Neuenburgerangelegenheit den Stab bricht.
Ich kann dir natürlich nicht Neuigkeiten berichten, wie Du es mir gegenüber im | Falle bist. Ich kann dir nur über die Stimmung in unserm Canton & in der Ostschweiz berichten. Bei uns im Ctn. Zürich wünscht die ganz überwiegende Mehrheit des Volkes (99/100), daß um dieser Savoyerfrage willen die Schweiz nicht einen Krieg mit Frankreich beginne. Die Offiziersadresse braucht dich nicht zu befremden. Ein Paar höhere Offiziere, die namentlich beim Bierglase das große Wort führen ( Hans Ott5 & Wolff6 à la tête), haben die Sache auf die Bahn gebracht, & einmal angeregt, haben eine Menge Offiziere geglaubt, nicht anders zu dürfen & dann mit großem Widerstreben – ich habe hievon sprechende Beweise! – unterzeichnet! Die Winterthureradresse 7 wird allgemein als eine Speculation Sulzers8 auf eine Nationalsrathswahl im nächsten Herbste bezeichnet, & von den wackersten Leuten im Canton9 aufs entschiedenste mißbilligt. Auch in Win| terthur haben viele der besten Leute sich nicht bloß ferne gehalten, sondern gegen dieses Vorgehen ereifert. Im übrigen gehen die Berichte von Dubs & mir dahin, daß in allen Gegenden des Cantons, & auch in den politisch erregtesten, die Stimmung des Volkes entschieden gegen einen Krieg um dieser Angelegenheit willen ist, & daß man hofft, Du werdest diesen Extravaganzen ein kräftiges Halt gebieten.
Ganz gleiche Berichte haben wir aus den besten Quellen aus Thurgau, Schaffhausen, St. Gallen & Glarus. Aus den heutigen Blättern10 wirst Du die Erklärung von v. 6 der einflußreichsten Mitglieder des National- & Großen Rathes im Canton Aargau11 ersehen & dich daraus von ihrer Ansicht über die Tagesfrage überzeugen. Es ist möglich, daß Keller12 in seiner unbegreiflichen Windfahnenpolitik (& er hat das Unglück, sich immer nach trügerischen Winden zu richten!) sich zum Harlequin der Helvetia hergibt: es wird ihm aber | dieß, wie ich die Stimmung des eben erst aus den Volkswahlen hervorgegangenen Großen Rathes v. Aargau kenne, nicht viel nützen!
Ich muß schließen. Ich glaubte Dir dieß noch unmittelbar vor Postabgang mittheilen zu sollen. Entschuldige meine sichtbare Eile.
Von Herzen
Dein
A Escher
Sulzberger13 ist, wie Du übrigens nicht daran gezweifelt haben wirst, sehr entschieden mit uns.
Kommentareinträge
1Der dritte Brief ist nicht ermittelt.
2Gemeint sind die von der radikalen Studentenverbindung Helvetia organisierten Versammlungen, die vielfach ihren Abschluss in einer Adresse an den Bundesrat fanden. Vgl. Zur Schweizer Aussenpolitik und Aussenhandelspolitik der 1850er und 1860er Jahre, Absatz 24; Zur Schweizer Aussenpolitik und Aussenhandelspolitik der 1850er und 1860er Jahre, Absatz 34; Chronologie der Savoyer Frage 1860.
3Gemeint ist Jakob Stämpfli (1820–1879), Bundesrat (BE).
4 Auguste De la Rive (1801–1873), Physiker (GE), ausserordentlicher Gesandter in London.
5 Hans Ott (1813–1876), Grossrat (ZH), eidg. Oberst.
6 Johann Kaspar Wolff (1818–1891), Bauinspektor (ZH), eidg. Oberstlieutnant.
7Die Versammlung im Gasthof zur Sonne in Winterthur ging am 16. April 1860 von der Ansicht aus, «daß in der gegenwärtigen beängstigenden Situation es für die Behörden sowohl, als für die öffentliche Meinung von größter Wichtigkeit ist, die Ansicht möglichst vieler Bürger über die Tagesfrage auf directem und sicherm Wege in Erfahrung zu bringen [...]». Eingabe von Winterthur an BR, 16. April 1860. Zur Schweizer Aussenpolitik und Aussenhandelspolitik der 1850er und 1860er Jahre, Absatz 34.
8 Johann Jakob Sulzer (1821–1897), Grossrat (ZH), Stadtpräsident von Winterthur.
9Gemeint sind vermutlich Johann Jakob Huggenberg und Johann Jakob Müller, die Escher auf die Versammlung in Winterthur hinwiesen. Vgl. Johann Jakob Huggenberg an Alfred Escher, 15. April 1860; Johann Jakob Müller an Alfred Escher, 13. April 1860.
10Entsprechende Artikel finden sich in der «Neuen Zürcher Zeitung» und in den «Aargauer Nachrichten». Vgl. NZZ, 17. April 1860; Aargauer Nachrichten, 17. April 1860.
11Sechs Mitglieder des Verwaltungsrates der «Aargauer Nachrichten», unter ihnen Samuel Frey, liessen am 15. April 1860 verlauten, dass sie mit der Richtung des Blattes nicht einverstanden seien und deswegen aus dem Verwaltungrat austreten würden. Vgl. NZZ, 17. April 1860. – Bereits zuvor berichtete Verwaltungsrat Samuel Frey Escher, dass das Aargauer Blatt «Euch, wackere Staatsmänner von Zürich» wegen des Verhaltens in der Savoyer Frage auf «infame Weise verdächtigt u besudelt» habe. Samuel Frey an Alfred Escher, 13. April 1860. – Die «Aargauer Nachrichten» schrieben am 12. April 1860, dass das Schweizervolk verschachert werde. Denn mehrheitlich sei man nicht einverstanden mit dem friedlichen Weg, «welchen Hr. Dr. Alfred Escher dem Bundesrath vorgezeichnet» habe und welchen die Mehrheit des Bundesrats nun zu beschreiten beabsichtige. Aargauer Nachrichten, 12. April 1860. Vgl. Aargauer Nachrichten, 8. April 1860.
12 Augustin Keller (1805–1883), Regierungsrat und Nationalrat (AG), Mitglied des Eidgenössischen Schulrats.
13 Johann Ludwig Sulzberger (1815–1882), Grossrat, Regierungsrat und Nationalrat (TG), Verwaltungsrat der Thurgauischen Hypothekenbank und der Rentenanstalt.