Bern den 7 Dec. 1859.
Mein lieber Freund!
Schon seit geraumer Zeit war ich nicht im Falle, Dir eine etwas erhebliche Mittheilung zu machen. Nun ist aber etwas am Horizonte aufgetaucht, das mich mit einigem Bedenken erfüllt u das Dich jedenfalls auch intressiren wird. Auf unsern Kanzleitisch legte nämlich das Post & Baudepartement mit der Unterschrift St...1 einen Vortrag über die Schweizerische Alpenbahnfrage.2 Es werden darin die Gefahren hervorgehoben, welche die Bauten über den Mont Cenis3 u Brenner4 der Schweiz bereiten u es wird darauf hingewiesen, daß bei der Schwäche u Zerrissenheit unsres Eisenbahnwesens die Anhandnahme einer Alpenbahn nicht vorzusehn sey; deßhalb müssen die Bundesbehörden von einer passiven in eine active Stellung übergehen u Studien u Verhandlungen zu veranlaßen, die ein Urtheil darüber ermöglichen, welche der verschiednen Pässe politisch, technisch, kommerziell u finanziell sich am vortheilhaftesten darstellen. Der Bund soll dahin wirken, daß die isolirten Bestrebungen einzelner Kantone u Gesellschaften sich zum nämlichen Ziele vereinen; bey der Auswahl eines Alpen passes soll nebst der technischen Schwierigkeit maaßgebend seyn | das politische u militärische Intresse der Schweiz, daß namentlich die Übergänge nicht zu nahe an der Grenze statt finden (also doch wohl nicht Simplon ), sodann das Verkehrs Intresse einer möglichst großen Zahl der Kantone und Bahngesellschaften usw. Der Antrag geht dahin: Der Bund solle die Initiative ergreifen u daher a) die nöthigen Studien anordnen, wofür der nöthige Credit zu verlangen ist; b) zur geeigneten Zeit die nöthigen Unterhandlungen mit auswärtigen Staaten, namentl. Sardinien pflegen u c) ebenfalls die angemeßnen Verhdlgen mit Kantonen u Bahngesellschaften.5
So lautet der Antrag. Mir kommt er vorläufig wie eine neue Hinterthüre vor, durch welche der Bund ins Eisenbahnbauen hineingerissen werden soll, um ihn dann immer weiter u weiter zu ziehen.6 – Es wäre mir indeß angenehm, auch Deine Ansicht über die Sache zu vernehmen; ich setze voraus, daß dieser Gegenstand etwa bis Montag zur Behandlung kommen könnte.7
Auf baldiges Widersehen in Bern! Freundschaftl. grüßend
Dein
J F
Kommentareinträge
1Gemeint ist Jakob Stämpfli, der stellvertretende Vorsteher des Post- und Baudepartements. Vgl. Aus den Verhandlungen des schweizerischen Bundesrathes (vom 24. Dezember 1858), in: BBl 1858 II, S. 680.
2Der Vortrag, datiert vom 30. November 1859, ging auf eine Aufforderung des Bundesrates vom 9. November ans Post- und Baudepartement zurück, im Zusammenhang mit der Bodenseegürtelbahn «Bericht und Antrag darüber zu hinterbringen, ob u. wie fern die Bundesbehörde in Betreff der Alpenbahn die Initiative zu ergreifen habe» . Prot. BR, 9. November 1859. Vgl. Prot. BR, 17. Dezember 1859. – Zur Bodenseegürtelbahn Jakob Dubs an Alfred Escher, 18. Oktober 1863.
3Die 1871 dem Verkehr übergebene Mont-Cenis-Bahn verbindet Turin mit Chambéry. Der Mont-Cenis-Tunnel zwischen Modane und Bardonecchia (erstellt 1857–1871) gilt mit seinen 12,8 km (ab 1881: 13,7 km) als erster grosser Alpentunnel. Vgl. Röll, Enzyklopädie VII, S. 301; Röll, Enzyklopädie VII, S. 301–303.
4Die rund 125 km lange Brennerbahn (erbaut 1864–1867) führt von Innsbruck über den Brennerpass nach Bozen. Vgl. Röll, Enzyklopädie III, S. 62–65.
5Die hier aufgezählten Punkte a, b und c des Antrages stimmen genau überein mit der im Bundesratsprotokoll wiedergegebenen Aufzählung. Vgl. Prot. BR, 17. Dezember 1859.
6Bundesrat Stämpfli, bereits beim Eisenbahngesetz von 1852 auf der Seite der Befürworter des Staatsbaus, kämpfte bis an sein Lebensende für eine Verstaatlichung der Eisenbahnen. Vgl. Jung, Aufbruch, S. 394–407.
7Die Angelegenheit wurde erst zehn Tage später, am 17. Dezember 1859, im Bundesrat behandelt. Vgl. Prot. BR, 17. Dezember 1859.