Bern den 7 Febr 1858.
Mein lieber Freund!
Das heute an dich erlaßne Schreiben in Geschäftssachen1 soll mich nicht hindern, ein zweytes in Familiensachen folgen zu laßen.
Vor allem meine aufrichtigsten Glückwünsche in meinem u meiner Familie Namen für das Ereigniß, welches dich bald in die ehrwürdige Stellung eines Familien Vaters versetzen soll.2 Möge es von keinem Unfall begleitet seyn u Dir u den Deinigen eine freudenreiche Zukunft bereiten! – Wie alt komme ich mir jetzt wieder vor; wenn auch nur ca 14 Jahre älter, als du, stehe ich schon in der gewöhnlich höchsten Potenz der Familien-Hierarchie, im Stadium des Großvaters!3 Doch das ist der Welt Lauf u ich habe nicht Grund zu klagen, da alle die Meinigen sich einer guten Gesundheit erfreun.
Meine Tochter4 wird schwerlich viel Eure «Einsiedelei» besuchen können, da ich vermuthe, daß sie nach ihrer Rückkunft von Winterthur schwerlich lange in Zürich bleiben wird.
Es wäre mir freilich lieb, wenn ich in die Sitzungen | gehen könnte, obwohl bis jetzt, soviel ich weiß, nichts Erhebliches schief gegangen ist. Allein die Jahrzeit ist leider ungünstig. Der Arzt sagt, ich solle jetzt Mittags bei schönem Wetter etwas spazieren, aber ja nicht ins Bundesrathhaus gehn wegen der Differenz der Temperatur, die dort gewöhnlich sehr hoch steht. Indeß hoffe ich doch, daß ich bald es wagen dürfe, wenigstens theilweise.
Meine zahlreichen Geschäfte sind nicht geeignet, die Reconvalescenz besonders zu beschleunigen. Schon acht Tage liegen Stöße von Acten auf meinem Zimmer für den Geschäftsbericht. Aber ich komme nicht einmal dazu. Die täglichen Correspondenzen, laufende Departementsgeschäfte, Besuche usw nehmen mir alle Zeit u machen mich ganz Sturm. Dazu viel Verdruß in der Flüchtlingssache. Frankreich beginnt wieder eine sehr zudringliche Stellung einzunehmen; die Hrrn Minister haben wieder einmal eine sehr erhitzte Phantasie u sehen nichts als Mord u Blut, obwohl bis jetzt weder in London noch Paris bey den Untersuchungen sich etwas gegen die Flüchtlinge in der Schweiz herausstellte.5 – Auf der andern Seite ist die Stellung der Regierung v. Genf eine höchst perfide, wie gewöhnlich. Sie schreibt nur, sie sey bereit unsre Verfügungen zu vollziehn (um alle Verantwortlichkeit abzuladen); gleichzeitig aber behauptet sie, daß nicht das mindeste | Verdächtige vorgehe, daß fast keine Flüchtlinge da seyen, daß alle Beschwerden Lug u Trug seyen usw. Alles gegen beßres Wißen und Gewißen! Dadurch erschwert sie uns natürlich die Motivirung irgend einer Maaßregel u unterließ rechtzeitig jedes untersuchende Einschreiten, sodaß wir immer im finstern tappen müßen. – Ich könnte dir ein Buch darüber schreiben, wenn ich Zeit und Kraft hätte. Könnte ich nur mit dir sprechen! – Aeppli ist als Vertrauensmann in Genf, kommt aber natürlich eben so düpirt zurück, wie alle frühern Commissaire; Dubs hatte die Mission ausgeschlagen wegen Grippe; der Bundesrath wollte natürlich eine persona grata6 schicken. – Hilft alles nichts. Der lügenhafte, schlechte Fazy7 wird uns noch die Schwindsucht anhängen. –
Daß der hießige Aufenthalt mich nicht erheitern u stärken kann, weißt Du bereits. Aber noch nicht weißt du, dass meine persönliche Sicherheit hier bedroht ist. Hierüber noch einige Curiosa!
Vor einigen Wochen ist gegen Mitternacht ein verrükter Berner, Gyger8, gekommen u hat fürchterlich an unserm Hause gepocht; zuerst wollte er ein Nachtquartier, dann verlange er, daß ich mit ihm komme usw. So spektakelte er über eine Stunde u endlich schlug er das Fenster neben der Thüre ein u war wie der Blitz auf unserer Etage, wo ich bewaffnet innerhalb der Gangthüre | mit ihm parlamentirte. Endlich gelang es mir, ihn zum Abzug zu bewegen gegen Versprechen, ihm seine Briefe, die er mir am Abend geschickt hatte, durch das Fenster nachzuwerfen. Von Polizey od. andrer Hülfe keine Spur, obgleich der Spektakel äußerst groß u anhaltend war. – Die Polizey bekam davon Kunde, wie sie sagt, zu spät, was aber nach allem sehr zweifelhaft ist. – Jetzt ist der Kerl beim Irrenarzt Niehans9 als förmlicher Maniacus10.
Gestern ist etwas ähnliches paßirt. – Ein Fremder ließ mir Mittags 3 Uhr durch die Magd eine Schrift abgeben; ich sah sogleich, daß es ein verrükter Badenser sey u ließ ihm sagen, ich werde d. Schrift dem Bundesrath geben. Er äußerte dann noch, er wolle Abends wieder kommen, denn ich müße ihm ein Nachtquartier anweisen. Sogleich schickte ich eine Anzeige auf die CentralPolizey, wo man versprach, augenblicklich einen Gens d'armes zu schicken, um dem Kerl aufzupaßen. Aber dieser Gens d'armes erschien erst in etwa 3 Stunden gegen 7 Uhr u blieb dann, wie lange weiß ich nicht. – Nachts ca 11 Uhr wurde durch Klopfen wieder das ganze Haus aus dem Schlafe aufgeschreckt. Wer war es? Ein Landjäger, der fragte, ob ich hier wohne! – Daraus ergiebt sich, daß die frühere Wache fortgelaufen war, ohne die Ablösung abzuwarten. –|
Heute schrieb ich der Polizey. Es komme mir auf Eins heraus, ob ein Landjäger, od. Schelm od. Verrückter mein Haus in Allarm bringe, u ich bedanke mich für alle Zukunft für solche Hülfe. Zwar werde ich auch künftig Anzeige machen, aber ohne irgend ein Begehrn zu stellen od. Hülfe zu erwarten, u ich werde den Schutz meiner Familie u meines Hausfriedens einzig Gott u meinen Waffen anheim stellen. Amen. –
Überhaupt werden wir viel von Vagabunden von großer Frechheit heimgesucht. u letzthin pakte einer meine Frau11, die ihn abweisen wollte, drohend bei der Schulter. Polizey erblickt man fast das ganze Jahr nie in unsrer Gegend. Ich habe noch nachzuholen, daß bei jenem ersten u gefährlichsten Vorfall meine Frau immer auf den Vorposten war u beim entscheidenden Augenblick mit einem Meßer bewaffnet als Sekundant an meiner Seite stund. Eine neue Stauffacherinn12 !
Willst du nicht auch Schw. Bundespräsident werden? – Du siehst wie brillant u verlockend seine Stellung ist! –
Trotz alledem ist mir nicht aller Humor abhanden gekommen. Ich schicke Dir ein Geschreibsel, das Du etwa Deiner Familie beim Thee vorlesen kannst; es sind nächtliche Phantasien eines schlaflosen Patrioten. –|
Ich bitte Dich, Herr Nationalrath, es nicht als Satyre gegen den Nationalrath aufzunehmen; es soll wirklich nur ein Spaß seyn, quamvis difficile sit, satyram non scribere13. Es versteht sich von selbst, daß diese Schrift etwa nur von meinen vertrautesten Freunden gelesen werden darf; gelegentlich erwarte ich sie zurück.
Meine besten Grüße!
Dein
F
Kommentareinträge
1 Vgl. Jonas Furrer an Alfred Escher, 7. Februar 1858.
2Gemeint ist die bevorstehende Geburt von Lydia Escher vom 10. Juli 1858. Vgl. Jung, Lydia Welti-Escher 2009 (Quellen, Materialien).
3Furrer war Vater von sechs Kindern; das erste wurde 1833 geboren, das letzte 1849. 1857 brachte seine Tochter Mathilde Sulzberger-Furrer (1835–1911) ihr erstes Kind zur Welt. Vgl. Dejung/Stähli/Ganz, Furrer, S. 15, 31.
4 Friederike Louise Furrer (1836–1897), Tochter von Friederike Furrer-Sulzer und Jonas Furrer.
5Der Attentatsversuch Felice Orsinis auf Napoleon III. vom 14. Januar 1858 verstärkte den Druck Frankreichs auf die Schweiz, gegen revolutionäre Flüchtlinge in Genf vorzugehen. Furrer antwortete auf eine entsprechende Verbalnote der französischen Gesandtschaft: «Die schweizerischen Behörden und das schweizerische Volk theilen nicht nur den Abscheu der civilisirten Welt gegen das stattgefundene Attentat, sondern sie haben schon längst den Grundsatz manifestirt, dass sie keineswegs fremden Verschwörern und politischen Wühlern ein Asyl geben wollen.» Schreiben Jonas Furrer an BR, 25. Januar 1858, in: DDS I, S. 587–588.
6Persona grata (lat.): willkommene Person.
7James Fazy (1794–1878), Nationalrat, Staatsrat und Grossrat (GE).
8Person nicht ermittelt.
9 Jakob Emanuel Niehans (1801–1871), Betreiber der psychiatrischen Anstalt «Zur Hoffnung» in Bern.
10Maniacus (lat.): Tobsüchtiger, manische Person.
11 Friederike Furrer-Sulzer (1813–1876), Tochter von Wilhelmine Sulzer und Regierungsrat Johann Heinrich Sulzer; ab 1832 Ehefrau von Jonas Furrer.
12Gemeint ist die Gattin des Schwyzer Landammanns Werner Stauffacher, einer der drei sagenhaften Gründer der Eidgenossenschaft. In Friedrich Schillers Drama «Wilhelm Tell» geht von der Stauffacherin die Idee zur Gründung der Eidgenossenschaft aus. Sie steht sinnbildlich für eine starke Frau. Vgl. HLS online, Stauffacherin.
13Quamvis difficile sit, satyram non scribere (lat.): obwohl es schwer ist, keine Satire zu schreiben.