Mein lieber Freund!
Ich habe dir für zwei liebe Briefe zu danken.1 Vor allem muß ich mein Bedauern darüber aussprechen, daß beide von dem Zustande Deiner Gesundheit unerwünschte Berichte geben. Du kannst zwar in Deiner Wohnung arbeiten, aber das Haus zu verlassen, ist dir bis zur Stunde in diesem Jahre noch nicht möglich gewesen. Wie traurig für dich! Wie beklagenswerth auch, wenn Deine öffentliche Stellung ins Auge gefaßt wird! Nie wäre es nothwendiger gewesen, als jetzt, daß Du mit voller Kraft den Sitzungen des Bundesrathes beiwohnen könntest, um gewissen Tendenzen entgegenzutreten, die dem Lande keinen Nutzen bringen können & denen, wenn Du den Sitzungen des Bundesrathes fern bleiben mußt, niemand mit demselben Erfolge, wie Du, Widerstand leisten kann.2 Wir alle, meine Familienglieder & unsere gemeinschaftlichen Freunde, nehmen den wärmsten Antheil an Deinem Gesundheitszustande & wir vereinigen unsere Wünsche, für Verbesserung & gänzliche Herstellung desselben.
Dein Fräulein Tochter3 kam nach Belvoir unmittelbar vor meiner Frau & meiner Abreise nach München. Gegenwärtig ist sie in Winterthur. Wir freuen uns, von ihr vernommen zu haben, daß sie nach ihrem Aufenthalte in Winterthur wieder hieher zurückkehren wird. Wir hoffen, sie dannzumal recht oft bei uns zu sehen, wenn sie unsere Einsiedelei in Belvoir nicht zu lang weilig findet.|
Ich hoffe, Deine werthe Frau4 befinde sich wohl, wie auch die Kinder in der Ferne & in der Nähe. Gute daherige Nachrichten werden gewiß wesentlich dazu beitragen, Deinen gegenwärtigen Zustand erträglicher zu machen.
Es erscheint mir als eine Freundespflicht, dir die Mittheilung zu machen, daß ich Aussicht habe, im Laufe dieses Sommers – Vater zu werden.5 Ich weiß, daß Du die Nachricht mit freundlicher Theilnahme entgegennehmen wirst. Ich hoffe, diese neue Stellung, die meiner wartet, werde den Meinigen & mir eine ergiebige Quelle reicher & wahrer Freude werden.
Sehr dankbar bin ich dir für die Mittheilung von der vorläufigen Eingabe, welche der Verwaltungsrath der Vereinigten Schweizerbahnen dem Bundesrathe betreffend den Vertrag der Nordostbahngesellschaft mit Baden gemacht hat.6 Man weiss nicht, ob man sich über diese Eingabe ärgern oder ob man über sie lachen soll. Deine Würdigung derselben ist ganz richtig. Keine Rede davon, daß der directe Anschluß einer andern Bahn als der Nordostbahn an die Badische Bahn durch den Vertrag ausgeschlossen sei. Es ist nur bestimmt, was sich übrigens von selbst versteht, daß die Nordostbahngesellschaft den ausschließlichen Betrieb der Fortsetzung ihrer Bahn auf Badischem Gebiete haben soll. Übrigens liegt ja hier res judicata7 vor. Wir haben unaufgefordert den Vertrag dem Bundesrathe mitgetheilt & derselbe hat nach genauer Prüfung desselben uns erklärt, er habe nichts | gegen den Vertrag einzuwenden. Einzig betreffend die Brückenstelle wurde ein Vorbehalt militärischer Natur gemacht. In Folge dessen haben wir dem Bundesrathe den Plan über die Stelle, wo die Brücke angebracht werden soll, vorgelegt. Der Bundesrath hat diesen Plan gutgeheißen & uns nun noch eingeladen, in den Schweizerischen Baupfeiler der Brücke eine Minenkammer Behufs erleichterter Zerstörbarkeit der Brücke im Falle eines Krieges anzubringen. Betreffend diesen allein noch unerledigten Punct werden wir demnächst noch eine Vorlage dem Bundesrathe machen. – Unter diesen Umständen wird unsere Stellung wohl eine unangreifbare genannt werden können. Ich zweifle auch nicht daran, daß der Bundesrath, wenigstens in seiner Mehrheit, dieß anerkennen wird. Dessenungeachtet ersuche ich dich angelegentlich, was Du zu diesem Ende hin noch nothwendig finden solltest, thun & mich vor allem, was in Sachen vorgeht, gef. unterrichtet halten zu wollen.
Ich schließe meine lange Epistel mit dem gleichen, warmen Wunsche, mit dem ich sie begonnen, daß Gott Deine Gesundheit bald wieder gänzlich herstellen möge, sowie mit herzlichen Grüßen von uns allen an Euch alle.
Ganz Dein
Alfred
Belvoir
6 Febr. 1858.
Kommentareinträge
1 Vgl. Jonas Furrer an Alfred Escher, 16. Januar 1858. – Zweiter Brief nicht ermittelt.
2Gemeint sind vermutlich die Flüchtlingsangelegenheiten, die den Bundesrat Anfang 1858 verstärkt beschäftigten. Im Umfeld des Attentats auf Napoleon III. intensivierten die europäischen Monarchien den Druck auf die Schweiz, Massnahmen gegen radikal-demokratische Flüchtlinge zu ergreifen. Vgl. Jonas Furrer an Alfred Escher, 7. Februar 1858.
3 Friederike Louise Furrer (1836–1897), Tochter von Friederike Furrer-Sulzer und Jonas Furrer.
4 Friederike Furrer-Sulzer (1813–1876), Tochter von Wilhelmine Sulzer und Regierungsrat Johann Heinrich Sulzer; ab 1832 Ehefrau von Jonas Furrer.
5Gemeint ist die bevorstehende Geburt von Lydia Escher vom 10. Juli 1858. Vgl. Jung, Lydia Welti-Escher 2009 (Quellen, Materialien).
6Die Vereinigten Schweizerbahnen beschwerten sich beim Bundesrat darüber, dass der Vertrag der Nordostbahn mit den Grossherzoglich Badischen Staatseisenbahnen Bundesrecht verletze. Die Beschwerde wurde vom Bundesrat abgewiesen. Jonas Furrer an Alfred Escher, 8. April 1858.
7Res judicata (lat.): rechtskräftiger Entscheid.