Hochverehrtester Herr & Freund!
Wenn ich auch mit dem größten Vergnügen vernehme daß Sie auf dem Wege der Reconvalescenz sich befinden1, so wage ich es doch nicht Sie in Geschäftssachen gleich wieder zu belästigen. – Vielmehr können Sie froh sein, daß ich nicht Ihr Portier bin, sonst ließe ich unbedingt gar keine dicken Briefe noch Actenstücke über Ihre Schwelle passiren; – höchstens kleinere Papierstreifen in parfümirter Enveloppe. –
Wir wollen also kurz sein und nur «Eine Million» für die Südostbahn verlangen. – Und zwar weil wir sofort am Wallensee sprengen2, weil wir einen Theil unserer Engländer abschütteln3 und allen gegnerischen Manipulationen in St. Gallen und anderswo gegenüber kurzen Prozeß machen möchten. – Für die Zukunft ist uns nicht bange, aber moralischen intelectuellen und besonders gutgestimmten stimmberechtigten Succurs könnten wir im Momente sehr brauchen. | Ich komme mir einigermaßen vor, wie Omer Pascha4 an der Donau mit seiner zußammengerafften Armee.5 Mit den BaschiBozuks6 von Engländern ist nichts zu machen, nehmen keine Disciplin an. – Hungerbühler7, Sprecher8 & Co gleichen der griechischen Bevölckerung9, die zu den Rußen möchten oder wenigstens das dermalige Regemint umstürzen. Daher sind die Alliirten sehr wünschenswerth. Den Bahnhof in Rorschach werden wir behaupten trotz Silistria10 und die beabsichtigte Occupation von Rorschach–Rheineck so wenig dulden, als die Rußen in der Moldau und Wallachei.11 – Kurz! Die Südostbahnfragen werden sich lösen trotz dem orientalischen Knoten – aber die zürcherischen Hülfstruppen sind jezt lange genug beobachtend in Gallipoli12 gestanden und sollten zur Einnahme und Occupation von Sebastopol13 am Wallensee vorrücken. Soviel Pulver kostet es dort jedenfalls nicht und diese Diversion wird uns sehr gut thun. – Über die frühern Wiener | Garantiepuncte14 und deren Interpretation wollen wir dann auch hintendrein sprechen, wenn die Locomotive läuft und die Südostbahn Meister ist. Den Gegner hauen ist stets die beste Garantie.
Vergessen Sie nicht, daß Bern und Luzern auch die Centralbahn im Momente ihrer Actienreduction rechtzeitig unter die Arme gegriffen15 und glauben Sie mir, daß die Südostbahn dermalen weit besser dasteht, als damals jenes Unternehmen sintemal wir nur wünschen, unsere Engländer verabschieden und bald remplaciren zu können. Aber der Übergang ist ein bischen kritisch – und sichere Stimmen in der Generalversammlung nöthig. – Der Lukmanier ist dermalen unter den Technikern mehr en vogue als jemals.16 –
Ich hoffe somit, daß Sie unserm Freund Dubs (soviel derselbe vor allgemeiner und spezieller Liebe und Idealitaet dermalen für materielle Dinge zugänglich ist)17 dem ich heute ein offizielles Betheiligungsbegehren zusende in emphelenden Sinne einen südostbahnlichen Zuspruch halten werden!18 |
Übrigens will ich schließen und bitte recht sehr ab, daß ich Sie mit dergleichen Anliegen heimsuchen muß. – Indessen weiß ich, daß Ihre frühern Collegen zu viel Gewicht auf Ihre diesfällige Ansichten legen, als daß ich Sie hätte ganz unbelästiget laßen können. –
Zürich wird es sicherlich nie bereuen, rechtzeitig noch auch der südöstlichen Eisenbahnrichtung volle Rechnung getragen zu haben. –
Und nun wünsche ich Ihnen nochmals herzlichst eine rasche und vollständige Wiederherstellung und emphele mich freundschaftlichst als
Ihren
treu ergebensten
A R v Planta
Winkelwiese19
Zürich den 18ten Dezbr 1855.
Kommentareinträge
1Für Escher war das Jahr 1855 von langen und ernsthaften Krankheitsphasen geprägt: Er litt an Erschöpfungszuständen und Nervenfieber. Von der Sommersession des Nationalrates wurde Escher dispensiert, und am 30. September 1855 sah er sich gar genötigt, von seinen kantonalen Ämtern zurückzutreten. Vgl. Jung, Aufbruch, S. 240, 281–289; Gagliardi, Escher, S. 274–285; Johann Jakob Blumer an Alfred Escher, 16. Februar 1856; Johann Jakob Blumer an Alfred Escher, 27. Februar 1856.
2Laut Bericht des Generalkomitees der Südostbahn für das Jahr 1855 wurden bis Ende Jahr noch keine Arbeiten am Walensee in Angriff genommen. Vgl. Bericht SOB 1855.
3Gemäss einem Ende August 1855 in Bad Ragaz abgeschlossenen Vertrag hätten die Mitglieder des englischen Konsortiums ihre ausstehenden Einzahlungen innert zwei Monaten leisten sollen. Da dies nicht der Fall war, wurden ihre Aktien im Januar 1856 annulliert. Vgl. Bericht SOB 1855, S. 48–56; Convention zwischen der schweizerischen und der englischen Sektion des Generalkomite's zu Beilegung der Differenzen (vom 29. August 1855), Abs. 5, in: Prot. Versammlung SOB 1855, S. 9–10; Wegmann, Vereinigte Schweizerbahnen, S. 45.
4 Omar Pascha (1806–1871), General, Befehlshaber der osmanischen Truppen im Krimkrieg.
5Planta zieht in den folgenden Abschnitten seines Briefes eine Parallele zum aktuellen Krimkrieg, wobei er der Schweizerischen Südostbahn die Rolle der Osmanen und den Vertretern des Kantons St. Gallen und ihrer St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn den russischen Part zuteilt. – Zum Krimkrieg: Nach der Besetzung der zum Osmanischen Reich gehörenden Donaufürstentümer Moldau und Walachei durch Russland im Juli 1853 erklärte das Osmanische Reich Russland am 4./ 6. Oktober 1853 den Krieg. Im März 1854 schalteten sich unter Einsatz ihrer Flotten im Schwarzen Meer die osmanischen Verbündeten Grossbritannien und Frankreich ein. Die beteiligten Grossmächte schlossen Ende März 1856 in Paris ein Friedensabkommen. Die Sympathien lagen in der Schweiz beim Osmanischen Reich und seinen Alliierten, die als Verteidiger der Zivilisation gegen den russischen Despotismus wahrgenommen wurden. Vgl. Arnold, Crimean War; Baumgart, Crimean War; Gugolz, Schweiz und Krimkrieg. – Zu den Auswirkungen des Krimkrieges auf die finanziellen Verhältnisse der Schweizerischen Südostbahn Johann Jakob Blumer an Alfred Escher, 22. Oktober 1853; Escher und die Ostalpenbahnfrage, Absatz 22.
6Als Baschi-Bozuks (türk. Wirr- oder Strudelköpfe) wurden im Krimkrieg irreguläre osmanische Truppen bezeichnet, die als «wilde Massen» auf eigene Faust Krieg führten und an räuberischen Überfällen beteiligt waren. Zu ihrer Disziplinierung wurden reguläre Truppen aufgeboten. Vgl. Meyers Konversations-Lexikon II, S. 416; Arnold, Crimean War, S. 20.
7 Johann Matthias Hungerbühler (1805–1884), Grossrat, Mitglied des Kleinen Rats und Nationalrat (SG), Verwaltungsrat der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn. Johann Jakob Blumer an Alfred Escher, 7. November 1853.
8 Johann Andreas von Sprecher (1811–1862), Bündner Jurist und Politiker, ehemals Mitglied des weiteren Komitees der Schweizerischen Südostbahn (1853), Anwalt des englischen Konsortiums im Streit gegen die schweizerische Sektion der Schweizerischen Südostbahn. – Im Bericht an die Aktionäre der Schweizerischen Südostbahn über das Jahr 1855 ist die die Rede von einem «leidenschaftlichen Feldzug» , den Sprecher gegen die Schweizerische Südostbahn geführt habe. Bericht SOB 1855, S. 80.
9 Griechenland, das 1829 mit Unterstützung von Grossbritannien, Frankreich und Russland die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erlangt hatte, unterstützte im Krimkrieg Russland in der Hoffnung auf Territorialgewinne. Vgl. Arnold, Crimean War, S. 74.
10 Silistra (heute Bulgarien, an der Grenze zu Rumänien gelegen): Stadt am rechten Ufer der Donau mit einer strategisch wichtigen osmanischen Festung, wurde von April bis Juni 1854 durch russische Truppen belagert. Ihr Abzug leitete zugleich den Rückzug aus den Donaufürstentümern ein. Vgl. Baumgart, Crimean War, S. 100–101; Meyers Konversations-Lexikon XVIII, S. 470–471.
11Der Bahnhof Rorschach war zu dieser Zeit noch nicht gebaut. Die St. Gallisch-Appenzellische Eisenbahn, die den Bahnhof als ihr Eigentum beanspruchte, wollte die Schweizerische Südostbahn nur zur Miete zulassen. Diese verlangte jedoch gleiche Rechte und rekurrierte in dieser Sache beim Grossen Rat St. Gallen. Wie Daniel Wirth-Sand, Verwaltungsrat der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn, in einem Brief an seine Kollegen schreibt, fürchtete man hier wiederum, aus dem strategisch wichtigen Bahnhof verdrängt zu werden, «damit die S.O.B. und N.O.B. sich ja recht bequem, uns umgehend, die Hand bieten und [...] die grosse Linie Chur–Bodensee–Basel also rein gar nichts zu besorgen habe von unserer Sackbahn» . Aus diesem Grund hat die St. Gallisch-Appenzellische Eisenbahn wohl auch versucht, der Schweizerischen Südostbahn die Konzession für Rorschach–Rheineck abzujagen. Brief Daniel Wirth-Sand an VR St. Gallisch-Appenzellische Eisenbahn, 19. Januar 1856, zit. Gygax, Wirth-Sand, S. 14–15. Vgl. Originalprot. VR/GK/WK SOB, 24./25. September 1855 (S. 77); Bericht SOB 1855, S. 76; St. Galler-Zeitung, 16. Januar 1856; Jakob Dubs an Alfred Escher, 26. Januar 1856; Wegmann, Vereinigte Schweizerbahnen, S. 30. – Die Rorschacher Bahnhofsfrage war auch Ende 1856 noch nicht erledigt, doch zog die Schweizerische Südostbahn ihren Rekurs im Zusammenhang mit den Fusionsbestrebungen zu den Vereinigte Schweizerbahnen zurück. Vgl. Rechenschaftsbericht SOB 1856, S. 34.
12 Gallipoli (Türkei, an den Dardanellen gelegen): Hafenstadt, wurde im Krimkrieg von den britischen und französischen Truppen, welche mit dem Eingreifen lange gezögert hatten, als Basis benutzt. Vgl. Arnold, Crimean War, S. 71.
13 Sewastopol (heute Ukraine, Halbinsel Krim): wichtiger Handels- und Militärhafen des Russischen Reiches, Schauplatz heftiger Kämpfe im Krimkrieg, wurde von Oktober 1854 bis September 1855 von den alliierten Streitkräften belagert und schliesslich eingenommen. Vgl. Arnold, Crimean War, S. 131–132.
14Im Sommer 1854 verständigten sich die Alliierten in Wien auf eine vier Punkte umfassende Note. Diese enthielt die an Russland gestellten Bedingungen zur Beilegung des Krimkrieges. Russland wies diese zuerst schroff zurück, musste sich aber aufgrund der militärischen Entwicklung nach Ablauf eines Ultimatums Ende 1855 zur Annahme herbeilassen. Vgl. Arnold, Crimean War, S. 150; Baumgart, Crimean War, S. 17–20. Entsprechende Bedingungen der Schweizerischen Südostbahn konnten nicht ermittelt werden.
15Der Kanton Luzern beteiligte sich mit 2 Mio., der Kanton Bern mit 4 Mio. Franken an der Schweizerischen Centralbahn, als diese durch Aktienreduktion der privaten Anleger in Schwierigkeiten geraten war. Vgl. Bauer, Eisenbahnen, S. 72.
16Entsprechende Äusserungen oder Publikationen konnten keine ermittelt werden.
17 Dubs, seit 1850 verwitwet, heiratete am 31. März 1856 Paulina Heitz, Tochter eines Seidenfabrikanten aus Stäfa. Vgl. Zehender, Dubs, S. 44.
18Der Zürcher Regierungsrat behandelte den Antrag Plantas am 12. Januar 1856. Er ordnete allerdings nur Abklärungen an: «Die Eisenbahnkommission hält es für nothwendig, daß, bevor dem Regierungsrath ein Antrag betreffend die Eingabe des Herrn Nationalrath von Planta wegen definitiver Uebernahme der tausend Aktien der Südostbahn vorgelegt wird, nähere Aufschlüsse theils über die finanzielle Lage der Gesellschaft, theils über das Technische der Bauten erlangt werden.» Prot. RR Kt. ZH, 12. Januar 1856. Escher und die Ostalpenbahnfrage, Absatz 23.
19Planta hatte seit 1849 einen eigenen Zürcher Wohnsitz, das Haus «Zum Belvedere», heute Winkelwiese Nr. 6. Vgl. Andreas Rudolf von Planta an Alfred Escher, 11. Januar 1852; Brandassekuranzbücher der Stadt Zürich, Bd. 6, Nr. 772 (StArZ V.L. 1.:6); INSA X, S. 432.