Mein lieber Freund!
Drei Briefe1, die mir Deine Freundschaft hat zukommen lassen, liegen zur Beantwortung vor mir & ich müßte mich beinahe schämen, daß ich so viele zusammenkommen ließ, bevor ich sie erwiederte, könnte ich nicht mit Wahrheit sagen, daß ich, obgleich Faulenzer in Baden, doch fortwährend so manches zu besorgen habe, daß ich zu dem, was nicht durchaus & unumgänglich nothwendig ist, fast nicht kommen kann.
Die Bundesrathswahlen sind ungefähr so ausgefallen, wie man es hat erwarten können. Eine Erfrischung des Bundesrathes, wie sie durch Stämpfli's Wahl Statt fand, wird niemand darin erblicken können. Ich spreche hier weniger von der politischen Erfrischung, welche die Bundesversammlung wohl nicht einmal gewollt hätte, als von der administrativen. Für welches Departement ist Furrer geeigneter als für dasjenige der Justiz & welches andere Departement, wenn nicht dieses, werden Fornerod2 & Knüsel3 | zu übernehmen für geeignet erachtet werden? – Deine Unterredung mit Fornerod war gewiß sehr am Platze: ich möchte den «Präsidialfuks» dabei gesehen haben! Wie die Sachen liegen, wird es nun zunächst Furrers Aufgabe sein, dahin zu wirken, daß Fornerod nicht eine Zürich nachtheilige Stellung im Bundesrathe einnehme. Ich gedenke auch in diesem Sinne an Fornerod zu schreiben, der mich gestern neuerdings durch einen Brief4 erfreut hat. – Die Dankrede5 von Knüsel hat mich sowenig erbaut wie dich. Es gibt eben Wahrheiten, die so traurig sind, daß man sie nicht sagen darf: Denn richtig ist & bleibt es doch, daß wohl niemand in der Bundesversammlung daran gedacht hätte, Knüsel in den Bundesrath zu wählen, hätte man nicht 1.) die katholische & 2.) die Centralschweiz in dieser Behörde repräsentiren wollen. Und dafür, daß dieß geschehen, hat K. der Bundesversammlung gedankt. Es dürfte passend sein, auch K. bei Gelegenheit zu sagen, wir erwarten eine | unparteiische Haltung im Bundesrathe von seiner Seite, & seien dazu umso mehr berechtigt, als wir ebenfalls für ihn gestimmt hätten. –
Deine Notiz über die Unterredung, die Du mit Hr. Bl.6 gehalten, hat mich sehr interessirt. Sie ist ungemein characteristisch. Blanchenay7 ist es mit diesem Manne gegangen, wie ich es ihm vorausgesagt. Aber mundus vult decipi8. Blanchenay hat übrigens seit letztem Dezember sonderbare Sprünge im Nationalrathe gemacht. Dabei dürfte er nicht gerade an Ansehen gewonnen haben.
Ich bin in der That in Verlegenheit, wenn ich dir sagen soll, was Hrn. v. Dusch9 zu antworten sei. Die Thurgi–Coblenzerlinie ist mit sehr vielen Übelständen für Zürich & die Nordostbahn unternehmung verbunden, so daß man sich jedenfalls zehn Male besinnen muß, bevor man sie ausführt. Hinwieder muß die Möglichkeit, diesen Schienenweg zu erstellen, offen behalten werden, damit wir Basel bei Zürich sowie der Nordostbahn feindseligen Tendenzen, die dort auftauchen könnten, im Schache zu halten vermögen. Sage Hrn v. Dusch etwa, die Nordostbahn| direction sei gegenwärtig theils weil einzelne Mitglieder abwesend seien theils wegen außerordentlicher Geschäftsüberhäufung kaum in der Lage, sich mit der Waldshuterfrage zu beschäftigen; übrigens hätte ich immer eine Antwort Badischer Seits auf eventuelle Grundlinien, die ich ihm seiner Zeit gemäß seinem Verlangen übergeben, erwartet. Nach meiner Cur in Baden, die in etwa 10 Tagen zu Ende gehen dürfte, werde ich einen Erholungsaufenthalt an einem noch von dem Arzte zu bestimmenden Orte machen müssen. Dabei grüße mir H. v. Dusch bestens.
Du formalisirst dich darüber, daß ich so oft von Baden nach Zürich gehe. Es ist fast nicht auszuweichen & wenn ich nicht unangenehme Geschäfte zu erledigen habe, so schadet es mir auch nichts. Man macht ja aus allen Bädern Ausflüge. Warum soll ich nicht pr. Eisenbahn nach Zürich & in meinem Wagen nach dem Eisenbahnbureau, Rathhause oder nach Belvoir fahren? Du wendest ein, es sei nicht die Reise, die mir schade, sondern das, womit ich mich auf diesen Bureaux usf. beschäftige. Dagegen replizire ich aber, was ich schon oben gesagt: Nur die | Beschäftigung mit unangenehmen Tractanden ist mir nachtheilig. Bis anhin kam mir aber bloß Ein solches (in der Eisenbahndirection) vor & ich war der letztern schuldig mitzuwirken, wie es mir denn auch gelungen ist, die Direction, die in ihren Ansichten getheilt war & sich nicht einigen konnte, zu einem einmüthigen Beschlusse zu verständigen. Die andern Geschäfte ließen mich aber ganz kühl. Dem Regierungsrathe wohnte ich nur bei, damit 5 Mitglieder anwesend seien. Die Geschäfte der Erziehungsdirection besorge ich meistens in Baden je nach Muße & Aufgelegtheit. Ich glaube nicht, daß all' dieß nachtheilig für mich sei. Immer mehr gelange ich zu der Überzeugung, daß Alterationen mir am meisten schaden.
Gestern war ich von 2 Uhr an oft in Euerm Kreise in der Zimmermannia10. Ich glaube, dieser engere Kreis wäre mir heimischer vorgekommen, als der weitere auf dem Rathhause, wo zu viel Fusionsluft oder besser Dunst, weht.
Die Einquartirung v. Salis11 bei Herrn Gruner12 macht Deinem bekannten practischen Geschicke alle Ehre. Das heißt man 2 Fliegen auf Einen Schlag tödten. Wie kamst Du auch dazu zu wissen, daß hier ein | Logis frei sei? Der hübschen Tochter13 erinnere ich mich gar wohl, vergesse aber auch nicht, daß ich diese Erinnerung, wie Salis sein Logis, einzig dir zu verdanken habe. Als wir einst aus dem Schwellenmätteli zu der Bundesstadt emporstiegen, machtest Du mich aufmerksam auf sie. Deine «kleinen Äuglein» hatten sie bald erspäht. Ich mit meinen «Bollaugen» würde sie nicht entdeckt haben! – Du thust in dieser Richtung viel für Deine Freunde. Du siehst für sie &..... Ich muß dir nun doch einen Gegendienst erweisen. Ein wahres Wunder, daß ich es kann! Künftigen Sontag Abend wird mit dem Eilwagen von Zürich Frau H..m14 in Bern eintreffen. Wahrscheinlich ist sie allein & wird erst in Bern mit ihrer Mutter15 zusammentreffen. Ich hoffe, Du werdest ihr die «Äuglein» als Leitsterne in dem Labyrinthe der Bundesstadt zu lieb werden lassen! – Ich habe «Veranlassung anzunehmen», die Bundesversammlung werde sich noch in die nächste Woche hinein erstrecken!
Gratulire schönstens zum Bundesgerichtsvicepräsidium. Ich zweifle nicht, daß Du Blumer eifrig für diese Stelle portirt hast. Ich habe aber | die gleiche Wahrnehmung gemacht wie Du. Er zieht in der Bundesversammlung durchaus nicht, wofür dieser eher ein Vorwurf zu machen ist als ihm. – Ich bin sehr gespannt, wohin Du im Jahr 1857 als Präsident das Bundesgericht einberufen wirst. Wahrscheinlich wird Affoltern seine legitimen Ansprüche geltend machen.
Herr RR. Müller wird wahrscheinlich am Samstag wieder eintreffen, Sulzer16 im Laufe der nächsten Woche. Letzterer wird also seinen 5 wöchentlichen Urlaub um etwa 1½ Wochen überschreiten, was mir & gewiß auch dir sehr lieb ist. Eine solche Unterbrechung seiner amtlichen Thätigkeit war schon lange Bedürfniß für ihn. Rüttimann wird ziemlich bald seine Cur in Baden-Baden antreten. Er hat eine neue Concursordnung ausgearbeitet. Ziegler17 dürfte noch nach Vichy gehen. Wild18 wird erst gegen den Herbst hin eine Erholungsreise antreten.
Das Bundesgericht will dich trotz Deiner Einwendungen durchaus zum Adarich vom Moose19 machen! Warum solltest Du das nicht mit dir geschehen lassen. Du kannst es ja zu einer Zeit thun, wo Dein Wegbleiben aus dem Regierungsrathe mit keinerlei Übelstän| den verbunden ist.
Bei uns in Zürich nicht viel neues. Bei den Bezirkswahlen haben da & dort Demonstrationen gegen die Bezirksmatadorenschaft Statt gefunden. Im ganzen sind die Statt gehabten Neuwahlen als gelungen zu bezeichnen. – Du weißt, welches lamento über den Abgang Ludwig's20 von unserer Universität angestimmt wurde. Die medizinische Facultät hat nun unaufgefordert ihr Gutachten dahin abgegeben, es sei nicht nöthig, für Ludwig eine neue Lehrkraft herbeizuziehen, vielmehr solle die Professur des letztern unter die bereits angestellten Lehrer vertheilt werden!! – Und Ludwig hat natürlich selbst dazu geholfen. Wenn dieses Licht an der Hochschule auslöscht, so soll es Nacht werden an der Anstalt. – Ich befinde mich nun wieder in der Alternative, entweder der Hochschule einen bleibenden Schaden zuzufügen oder eine Facultät im allgemeinen & einzelne Lehrer insbesondere vor den Kopf zu stoßen. Daß ich keinen Augenblick schwanke, was ich zu thun habe, wirst Du mir glauben. Aber diese Situationen, in die man geräth, sind halt ungemein anmuthig & ansprechend!
Die Frau Daler21, die mir von zwei so capitelfesten | Experten, wie Du & Julianus Apostata22 emphohlen worden, habe ich bisanhin nur – in dem Tagblatte gesehen. Sie logirt im Bären. Merke dir das für den Fall, daß Du in Bern nicht genug gebadet haben solltest & etwa auf der Durchreise durch Baden vor dem Wiedereintritte in Dein Laboratorium auf dem Rathhause, in dem das heilige Feuer der Vesta während Deiner Abwesenheit beständig fortgebrannt hat, noch Deine Sünden abwaschen wolltest.
Und nun noch eine Bitte! Erkundige Dich doch gefälligst, wo ich, für den Fall, daß ich nach Baden Interlaken zu einem Erhohlungsaufenthalt zu wählen hätte, am passendesten Quartier nehmen würde. Unser Freund, Heiri23 , würde mich begleiten. Du hast soviele Bekannte in Bern, daß Du gewiß leicht die beste Auskunft erhalten kannst & Du wirst mir zugeben, daß es sich der Mühe lohnt, sich über die angeregte Frage genau orientieren zu lassen.
Jetzt lebe wohl, mein lieber Freund! Nochmals herzlichen Dank für Deine vielen liebens| würdigen Briefe. Ich werde Dein Mitggefühl, das Du mir durch dieselben in so werkthätiger Weise an den Tag gelegt, nicht vergessen. – Nächste Woche werde ich dich hoffentlich wiedersehen, aber wohl mehr gegen das End derselben, da Du voraussichtlich im Anfange der Woche Deine Heimat noch in Bern zu suchen in Erfüllung deiner ständeräthlichen Pflichten genöthigt sein wirst.
Grüße mir, wer sich des Invaliden in Baden erinnert. Dir den Freundeshandschlag von
Deinem
A Escher
Baden
18/19 Juli 1855.
Kommentareinträge
1Gemeint sind die Briefe von Dubs vom 11. und vom 13. Juli sowie ein dritter, nicht ermittelter Brief. Vgl. Jakob Dubs an Alfred Escher, 13. Juli 1855; Jakob Dubs an Alfred Escher, 11. Juli 1855.
2 Constant Fornerod (1819–1899), Bundesrat (VD).
3 Josef Martin Knüsel (1813–1889), Bundesrat (LU).
4Brief nicht ermittelt.
5 Vgl. NZZ, 15. Juli 1855; Journal de Genève, 17. Juli 1855.
6Gemeint ist Eduard Blösch (1807–1866), Grossrat, Regierungsrat, Bundesgerichtspräsident und Nationalratspräsident (BE).
7 Louis Blanchenay (1801–1881), Staatsrat und Nationalrat (VD).
8Mundus vult decipi (lat.): Die Welt will betrogen sein.
9 Ferdinand von Dusch (1819–1889), Geschäftsträger des Grossherzogtums Baden in Bern.
10Gemeint ist das Gasthaus «Zimmermannia» in Bern. Jakob Dubs an Alfred Escher, 11. Juli 1855, Fussnote 46.
11 Johann Gaudenz Dietegen Salis (Seewis) (1825–1886), Grossrat und Ständerat (GR).
12 Jakob Friedrich Gruner (geb. 1803), Zeughausverwalter in Bern.
13 Marie Elise Karolina Gruner (geb. 1832), Tochter von Elisabeth Gruner-Brandenberger und Jakob Friedrich Gruner.
14 Emilie Heim (1830–1911), Sängerin (Sopran); Ehefrau des Sängers und Musikdirektors Ignaz Heim (1818–1880).
15 Müller (Vorname und Lebensdaten nicht ermittelt), Ehefrau von Obergerichtspräsident Müller von Rheinfelden.
16 Johann Jakob Sulzer (1821–1897), Grossrat und Regierungsrat (ZH).
17 Paul Karl Eduard Ziegler (1800–1882), Regierungsrat und Grossrat (ZH).
18 Felix Wild (1809–1889), Grossrat und Regierungsrat (ZH).
19Vermutlich spielt Escher darauf an, dass das Bundesgericht Dubs den Vorsitz einer Kommission übertrug, welche auf Antrag der Regierungen von Freiburg und von Bern die Rechtsverhältnisse betreffend «das große Moos im Seelande » klären sollte. Bericht des schweiz. Bundesgerichtes an die hohe Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1854 (vom 23. April 1855), in: BBl 1855 II, S. 9. Vgl. Jakob Dubs an Alfred Escher, 31. August 1854; Bericht des schweiz. Bundesgerichtes an die h. Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1858 (vom 30. Juni 1859), in: BBl 1859 II, S. 191–194.
20 Carl Ludwig (1816–1895), ordentlicher Professor der Anatomie und Physiologie an der Universität Zürich. – Ludwig war ans «Josephinum», die militärärztliche Akademie in Wien, berufen worden. Vgl. ADB LII, S. 124; NDB XV, S. 429.
21 Adèle Daler-Pittet (Lebensdaten nicht ermittelt), Tochter von Léon Pittet; Ehefrau des Händlers und Bankiers Jules Daler von Freiburg i. Üe.
22Gemeint ist Julien de Schaller (1807–1871), Grossrat, Staatsrat und Ständerat (FR). – Es handelt sich um eine Anspielung auf den römischen Kaiser Julian (331–363), dessen Übername «der Abtrünnige» bedeutet.
23Person nicht ermittelt.