Verehrte Herren Reg.Präs. Escher & Reg.Rath Dubs! 1
Wer die Empfindlichkeit meines geistigen Lebens gegen Alles, was Wohl und Wehe des Schulwesens betrifft, kennt, der wird keine Uebertreibung in den Worten finden, daß die letzten Vorgänge, besonders im Großen Rath in Beziehung auf die Erziehungsraths Wahlen2, mich gleichsam wie ein finsterer Geist aus der Ruhe des Todtenlagers aufgescheucht haben; aber ein ähnlicher Eindruck hat auch alle andern liberalen Schulfreunde getroffen; alle sind erstaunt und wissen keinen Ausdruck für ihre Gefühle zu finden. In dieser Lage der Dinge halte ich es für meine heilige Pflicht, noch einmal meine Stimme an Sie, der Sie keine Schuld an jenen Ereignissen tragen, zu erheben, um Nichts zu versäumen, was die ominöse Richtung, welche angebahnt ist, wieder hemmen könnte; diese Richtung ist angedeutet worden durch das unkenartige Geschrei, das seit geraumer Zeit aus der N. Z. Ztg. ertönte. Es ist die Richtung, die überall in geschlossener Phalanx der neuen Volksschule3 den Tod zu bereiten sucht. Sie, beide Herren, haben das Glück, daß das Schicksal des Kantons jetzt in Ihren Händen liegt; Ihre geistige Ueberlegenheit wird Ihnen überall den Sieg verschaffen. O! vergessen Sie nicht, daß nicht der äußere Regentenschimmer, sondern die ausgestreuten Saaten den Ruhm und den Segen des wahren Staatsmannes gründen; der Kanton Zürich wird der erste sein u. bleiben, so lange seine jetige Volksschule bleibt; fällt diese, so wird er sich wenig über Solothurn, St. Gallen, Thurgau u. s. f. erheben; Bern wird ihn überflügeln. Stoßen Sie mit Verachtung die Angriffe und Verläumdungen zurück, mit welchen man diese Volksschule abzuschlachten sucht. Ich habe Scherr4 | und sein System gekannt, Zollinger5 und das seine; Grunholzers6 Bestrebungen liegen offen vor der Welt da; allen Dreien hat man Schulpapstthum und hintendrein auch sozialistische Schullehrerherrschaft vorgeworfen. Als Herr Grunholzer sich zum ersten mal bei mir gegen diese große leere Null, denn weiter ist dieses Schreckbild Nichts, vertheidigte, rief er mit einem Ton des Jammers aus: «Eine solche Vertheidigung [...?] 7 glaubte ich nie nöthig zu haben im Kt. Zürich.» Ich trage kein Bedenken, Ihnen, fern von jeder eigennützigen Hoffnung, die innige Ueberzeugung vorzutragen, daß das Schulwesen des Kantons Zürich nur dann einen festen Halt empfangen wird, wenn Herr Grunholzer Seminardirektor sein wird.
Könnten Sie, (hier wende ich mich speziell an Sie, Herr Reg.Präsident, da mein Brief zuerst in Ihre Hände kommt), mir noch einige Zeilen zur Beruhigung absenden, die mich vielleicht noch am Leben antreffen, so thun Sie es. Sollte letzteres nicht der Fall sein, so nimmt ein Mann, der Sie stets geachtet, aber immer inniger geliebt hat, je mehr er Sie kennen lernte, doch die beruhigende Ueberzeugung, daß Sie auf diesen Rath achten werden, mit sich in das Grab.
Der Segen des Himmels, der bisher so sichtbar Sie beide begleitet hat, beglücke Ihr ganzes zukünftiges Wirken. In diesem beseeligenden Glauben sieht Sie nicht wieder Ihr zwischen Zeit und Ewigkeit schwebender Freund und Verehrer,
Dr. Ludwig Snell 8
Küssnach
den 24 Juni 1854.
Kommentareinträge
1Nachträgliche Notiz oben in der Mitte auf Seite 1 von Eschers Hand mit Bleistift: «Von Snell Herrn Kägi-Fierz einige Stunden vor seinem Tode dictirt.»
2In der Grossratssitzung vom 21. Juni 1854 mussten die Erziehungsratssitze von Seminardirektor Heinrich Zollinger und von Johannes Honegger neu besetzt werden. Während Honegger im dritten Wahlgang bestätigt wurde, wurde anstelle von Zollinger der Winterthurer Lehrer Johannes Rüegg gewählt, der bereits 1837–1839 und 1844–1847 Erziehungsrat gewesen war. Vgl. NZZ, 22. Juni 1854; Hunziker, Erziehungsrat, S. 82–83.
3Reformen des Bildungswesens unter der Herrschaft der liberalen Partei im Kanton Zürich in den 1830er Jahren führten unter anderem zur Schaffung der Zürcher Volksschule 1833. Vgl. Guggenbühl, Volksschule; Frey, Volksschulgesetzgebung; Hunziker, Erziehungsrat, S. 26–37; Ziegler, Erziehungsrat Zürich, S. 17–23.
4 Ignaz Thomas Scherr (1801–1870), Erziehungsrat (TG), Leiter einer privaten Erziehungsanstalt in Emmishofen. – Scherr übte als Direktor des Lehrerseminars in Küsnacht (1832–1839) grossen Einfluss auf die zürcherische Bildungspolitik aus.
5 Heinrich Zollinger (1818–1859), Lehrer für Deutsch und Pädagogik sowie Direktor des Lehrerseminars Küsnacht. – Zollinger war von Anfang 1849 bis im Sommer 1855 Direktor des Lehrerseminars in Küsnacht. Am 3. Juni 1854 trat er einen mehrmonatigen Urlaub von seiner Stelle am Seminar an, um seine erneute Auswanderung nach Java vorzubereiten; im Januar 1855 reichte er sein Entlassungsgesuch ein. Vgl. Grob, Lehrerseminar, S. 36–37; Wanner, Zollinger, S. 26–27; Koller, Heinrich Grunholzer, S. 627.
6 Heinrich Grunholzer (1819–1873), Grossrat (ZH), Lehrer für Deutsch und Geschichte an der Industrieschule Zürich. – Grunholzer vertrat im Sommer 1854 Zollinger bei dessen Abwesenheit am Lehrerseminar Küsnacht. Vgl. Grob, Lehrerseminar, S. 86.
7Nachträgliche Korrektur in anderer Handschrift, vermutlich von Snell, ursprünglich: «Beleidigung».
8Unterschrift in anderer Handschrift; vermutlich von Snell eigenhändig unterschrieben.