Bern den 13 Nov. 1853.
Mein lieber Freund!
Als man mir Deinen letzten Brief1 gab, errieth ich sogleich den vollständigen Inhalt deßelben u habe mich wirklich nicht getäuscht.
Hr Oberst Stäheli hat es bey der letzten Conferenz abgelehnt, Eure Anstände bei Winterthur2 u Rorschach3 in den Kreis der Vermittlung4 hineinzuziehn u St Gallen wollte, wie begreiflich auch nichts davon wißen u so war nur beiläufig davon die Rede. Wenn der Bundesrath bis jetzt einen solchen Auftrag nicht ertheilte, so ist dieses, abgesehen von andern Gründen, schon darum sehr natürlich, weil er bis zum Schlußbericht5 des Herrn Stähli von diesen Anständen officiell gar nichts wußte u weil keine Parthey ein solches Begehren gestellt hatte. Erst gestern kam ein Schreiben6 in diesem Sinn von der Regierung von Thurgau u nebst Deinem Brief an mich, auch ein solcher von Hrn Kern an Hrn Munzinger7. Erst jetzt entsteht für den Bundesrath die Frage, ob er Auftrag geben solle, auch jene Punkte hineinzuziehen. Mir scheint vorläufig, man müße einen materiellen u einen formellen Gesichtspunkt unterscheiden. Ich glaube, der Bund könne nicht darüber sich einlaßen u entscheiden, wie materiell die Anstände in Winterthur u Rorschach | regulirt werden sollen; denn dieselben fallen gar nicht unter den Grundsatz des Art. 178 des Eisenbahngesetzes; wenigstens ist dieses bey dem dringlichen Punkte (Bahnhof in Winterthur), der mir zur Zeit allein näher bekannt ist, der Fall; denn St Gallen erschwert hier nicht auf seinem Gebiet einer fremden Eisenbahn die Existenz. Dazu kommt, daß diese Anstände unter Euern Staatsverträgen stehen u daß für solche Fälle ein Schiedsgericht vorgesehen ist. Sobald daher eine Parthey sich weigert, hierüber vor den Bundesbehörden Bescheid zu geben, so glaube ich können diese nicht darauf eintreten u zwar auch auf dem Wege der Vermittlung nicht; denn eine solche kann nur statt finden entweder auf Grundlage eines Gesetzes od. freiwilliger Annahme der Vermittlung auf gewiße Streitpunkte.
Anders gestaltet sich die Sache mit der mehr formellen Seite, die dahin geht, St Gallen zu vermögen, entweder den Bahnhof in Winterthur zu genehmigen od. Schiedsrichter zu ernennen. Denn hier kann der Vermittler z. St Gallen wohl sagen: Ein Hauptgrund der Weigerung Thurgaus, Euch zwischen Wyl u Aadorf zu entsprechen, ist Euer schikanöses Benehmen bei Winterthur; ihr müßt bei einer Vermittlung entgegenkommen u wenn wir (der Bund) auch nicht, wenigstens jetzt, berufen sind, diesen Streit materiell zu entscheiden, so sind wir doch im Fall, zu verlangen, daß ihr dort Thurgau nicht geradezu den Rechtsweg abschneidet u dsn Kanton dadurch beliebig in Schaden bringt us. w.
Den Fall v. Rorschach kenne ich, wie gesagt, noch nicht näher; | allein ich hätte vor der Hand dort mehr bedenken, besonders darauf einzugehen, weil zur Zeit ja noch gar keine Concession Romannshorn– Rorchach vorliegt, also schwerlich hier Dringlichkeit vorhanden ist. Übrigens soll dieser Punkt nicht sehr beanstandet seyn.
Ganz anders verhält es sich meines Erachtens mit der Station Adorf; dieser Punkt gehört auch materiell in die Vermittlung, weil er auf der nämlichen streitigen Thurgauerstrecke liegt (Art. 17 des Ges.) u Hrn Stehelin hat denselben daher ganz richtig in die Vermittlung hineinzuziehen gesucht.9
Ich denke der BRath wird nun morgen wieder die Sache behandeln u ich will Dir das Resultat melden.10 Jedenfalls halten wir es für unsre Pflicht, dafür zu sorgen, daß im Fall des Nichtgelingens der Vermittlung die Bundesversammlung (wenn sie immer sich damit befaßen mag) vollständige Acten habe u in diesem Sinn haben wir die Partheyen eingeladen, alles einzugeben, was zu ihrem Rechtsbehelfe dient, um so mehr, da wir vielleicht noch von unsrer Seite bei allfälligen Widersprüchen über technische Verhältniße Ergänzungen vornehmen müßen. –
Damit Ihr nun bei allfällig weitern Vermittlungsvorständen
St Gallen antworten könnt, will ich Dir sagen, was sie wegen der Anstände
in Rorchach u Winterthur behaupten:
1. Die Angelegenheit v. Rorschach sey mit Haaren herbeigezogen, da noch gar
keine Concession vorliege; übrigens habe man wiederholt ganz beruhigende
Zusicherungen hierüber gegeben.
2. Bahnhof in Winterthur: Sie tragen keine Schuld an der Zögerung; denn
sie haben um die Dispositionen der Anlage seit Wochen
|
gebeten, um über das in Zürich angenommne «modificirte» Projeckt N 311 eine Entscheidung z faßen. Man habe in Zürich das Versprechen
nicht gehalten, die Dispositionspläne dem Hrn v. Etzel12 vorzuweisen,
damit dieser ein Parere13 abgeben könne. Deßwegen haben sie den Ing. Hartmann14 nach Zürich u Winterthur schicken müßen, um das Lokal
des Projekts N 3 einzusehen u Erkundigungen einzuziehen. Dieser
habe nun officiell erklärt, auf das, was er gesehen u von Herrn Bek
vernommen, dürfe er sich nicht getrauen, die Genehmigung vorzuschlagen;
um das thun zu können ohne die größte Verantwortlichkeit, bedürfe
es vom Zürcherisch technischen Personal einläßlichere Aufschlüße.
Sie haben kein Intreße an der Verzögerung, im Gegentheil, weil sie
wegen der Wyl–Winterthur Linie sobald als möglich den Angriff
der Winterthurer Station wünschen müßen; sie hoffen dieselbe Ao 1855
ebensogut nothwendig zu haben, als die Zürcher. Sie können kein
Schiedsgericht wählen, weil kein Streitobjekt vorliege, da sie das
Projekt N 3. wegen Mangels der nöthigen Ausweise noch nicht haben
ablehnen können. Soll aber dieses Schiedsgericht schon die Vorfrage
entscheiden, ob man die weitern Dispositionspläne vorlegen müße,
so haben sie nichts dagegen. Man glaube die Reg. v. St.Gallen würde
die Wahl vornehmen u die ihnen zugedachte Kopfstation hinnehmen,
unter der Bedingung, daß die StGallische Bahn sowohl in der Richtung v. Zürich als v. Schaffhausen, sowie auf dem Bahnhof selbst und rücksichtlich
von Remisirungen nicht nachtheiliger gehalten werde, als
jede andre Bahn u daß die ihnen dort zugemutheten Expropriationen
nicht an härtere Bedingungen geknüpft werden, als andre Unternehmungen.
Ferner müßen sie die Genehmigung des Tracé v. Adorf
nach Winterthur verlangen u die Gutheißung der Station Elgg,
|
welche der Verwaltung v. St Gallen u den Intreßen Elgg's in allweg
convenire.
Hier hast du die Geschichte! Urtheile nun selbst, was daran gut od. faul sey; aber benutze es mit Sorgfalt, damit ich nicht compromittirt werde; denn ich weiß dieses nicht aus offiziellen Acten, sondern aus einem Briefe, der mir zum Lesen mitgetheilt wurde. Vielleicht findest du es räthlich, mir sogleich pr telegraph einige kurze Andeutungen darüber zu geben, da wir Morgen Mittag Sitzung haben. Zu mehrerer Bequemlichkeit können wir uns über folgende Zeichen verständigen:
R. Anstand in Rorschach. | S. Regierung od. Eisenbahnverwaltung v. St Gallen. | |
W. Bahnhof in Winterthur. | T. Reg. v. Thurgau. | |
Z. Nordostbahn Direction. | C. Vermittlungscommissair. | B. Bundesrath. |
Freundschaftlich grüßend
Dein
F
Kommentareinträge
1Brief nicht ermittelt.
2Die Stadt Winterthur wurde von Zürich her durch die Zürich-Bodensee-Bahn bzw. Nordostbahn, von Schaffhausen her durch die Rheinfallbahn und von St. Gallen her durch die St. Gallisch-Appenzellische Eisenbahn angefahren. Der Bau des Bahnhofs erfolgte durch die Nordostbahn, während sowohl die anderen Bahnen als Mitbenutzer wie auch die Stadt Winterthur bemüht waren, ihre Interessen hinsichtlich Lage und Richtung des Winterthurer Bahnhofs bestmöglich berücksichtigen zu lassen. Sechs verschiedene Projekte für den Bahnhof wurden ab 1852 diskutiert, bis im März 1854 die endgültige Entscheidung für eines der Projekte fiel. Vgl. Geschäftsbericht NOB 1853, S. 5; Luz, Nordostbahn, S. 60–67; Zacharias Gysel an Alfred Escher, [ 1853 ].
3Die Nordostbahn verlangte von der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahngesellschaft, beim Bau des Bahnhofs in Rorschach auf eine später zu erfolgende Einmündung einer Linie der Nordostbahn von Romanshorn her Rücksicht zu nehmen. Vgl. Luz, Nordostbahn, S. 65.
4 Stehlin war vom Bundesrat als Vermittler bestimmt worden, um zwischen der Thurgauer Regierung und der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn zu schlichten. Dabei ging es in erster Linie um die Forderung des Thurgaus, dass in Rickenbach eine Station erstellt werden müsse. Vgl. Prot. BR, 19. August 1853; Prot. BR, 29. August 1853; Bundesbeschluß, betreffend den Konflikt zwischen der Regierung des h. Standes Thurgau und der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahngesellschaft wegen Anbringung einer Station in Rikenbach (vom 5. August 1853), in: BBl 1853 III, S. 353–354.
5Diesen Bericht behandelte der Bundesrat in seiner Sitzung vom 4. November. Vgl. Prot. BR, 4. November 1853.
6Dieses Schreiben behandelte der Bundesrat in seiner Sitzung vom 14. November. Vgl. Prot. BR, 14. November 1853.
7 Josef Munzinger (1791–1855), Bundesrat (SO).
8«Wenn ein Kanton die Bewilligung zur Erstellung einer im Interesse der Eidgenossenschaft oder eines großen Theils derselben liegenden Eisenbahn auf seinem Gebiete verweigert, ohne selbst die Erstellung derselben zu unternehmen, oder wenn er sonst den Bau oder den Betrieb einer solchen Bahn irgendwie in erheblichem Maße erschweren sollte, so steht der Bundesversammlung das Recht zu, nach Prüfung aller hiebei in Betracht kommenden Verhältnisse, maßgebend einzuschreiten und von sich aus das Erforderliche zu verfügen.» Eisenbahngesetz 1852, Art. 17.
9Die Lage des Bahnhofs bei Aadorf wurde im selben Vergleich festgelegt, mit dem die Streitfrage der Station bei Rickenbach geklärt wurde. Vgl. Rechenschaftsbericht SGAE 1853, S. 8–9; Andreas Rudolf von Planta an Alfred Escher, 15. Oktober 1853.
10Der Bundesrat ersuchte Stehlin, seine Vermittlung fortzuführen und auch auf eine Erledigung der Streitfragen in Winterthur bzw. Rorschach hinzuwirken; letztere beide wurden aber ausdrücklich von der formellen eidgenössischen Vermittlung ausgenommen. Vgl. Prot. BR, 14. November 1853. – Eine diesbezügliche Mitteilung Furrers an Escher konnte nicht ermittelt werden.
11Diese angepasste Variante für das Bahnhofprojekt war im August 1853 aufgetaucht und von der Nordostbahn beschlossen worden. Vgl. Luz, Nordostbahn, S. 64–65.
12 Karl von Etzel (1812–1865), württembergischer Ingenieur, Oberingenieur der Centralbahn und der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn.
13Parere: schriftliches Gutachten über eine strittige Handelssache.
14 Friedrich Wilhelm Hartmann (1809–1874), bayrischer Ingenieur, Baudirektor der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn.