Bellinzona 12. Juni 1853.
Mein lieber Freund!
So eben empfing ich Deine Depesche1 &. adressire daher diesen Brief noch nach Bern.
Gestern kam durch eine Motion Bertonis2 die Eisenbahnfrage im Großen Rathe zur Sprache, er verlangte Dringlichkeit. Pioda sagte, daß die Regierung die Frage noch vor dem September dem Großen Rathe vorlegen werde, zur Zeit sei dieselbe noch nicht vorbereitet. Die Dringlichkeit wurde mit allen gegen 7 Stimmen verworfen. Es ist somit sicher, daß die Frage jetzt nicht mehr behandelt wird (der Große Rath geht morgen auseinander). Unter solchen Umständen habe ich so eben meine Abschiedsvisiten gemacht &. gehe nun mit La Nicca über den Luckmanier heim, da ich den geliebten Sohn| Zürichs von Aug zu Aug besehen möchte &. dazu niemals einen bessern Führer auswählen könnte.
Pioda sprach sich merkwürdiger Weise gestern im Großen Rathe dafür aus, daß eine große Schweiz. Gesellschaft, welche mit allen Schweiz. Eisenbahngesellschaften die Fusion eingeleitet habe, sich anerboten, den Luckm. od. Gotthard zu bauen.3 Nach dem Wortlaut ging seine Rede sogar dahin aus, die Fusion mit allen Schweiz. Eisenbahngesellschaften sei bereits so gut wie fertig!
Die Parteien im Großen Rath sind ziemlich bestimmt ausgeschieden. Für die Basler4 sind 1. die Liviner; 2. 3 Magadiner (Jalousie gegen Locarno); 3. die Trans-Ceneriner fast einmüthig.5 Unter solchen Umständen ist die Verschiebung auch für uns wünschbar.|
Ein Artikel zu Gunsten des Gotthards in der N.Z.Z.6, den wir gestern hier erhielten, machte bedeutendes Aufsehen. Pioda hielt mir ihn in Gegenwart des H. Meyer7 vor, worauf ich ihm bemerkte: Hr. Felber8 &. seine Einsender repräsentiren bekanntlich Zürich sehr oft nicht; übrigens haben Erfahrungen es dazu gebracht, daß jedes gute Zürcher Morgengebet die Bitte aufgenommen habe:
«Herr, laß uns nicht in die Hand Basels fallen!»
Ueber manchen Detail mündlich mehr; ich komme also am Mitwoch Abend heim. Auf Wiedersehen!
Mit freundschaftlichem Gruß
Dein
J. Dubs.
Kommentareinträge
1Telegramm nicht ermittelt.
2 Ambrogio Bertoni (1811–1887), Grossrat (TI).
3Sachverhalt nicht sicher ermittelt. Pioda spielt wohl auf die Schweizerische Centralbahn an, die sich unter dem Druck ihrer Geldgeber seit längerem um eine Fusion mit der Compagnie de l'Ouest-Suisse bemühte. Diese Fusion sollte noch weitere Schweizer Bahnen mit einbeziehen. Zeitweise war auch die Rede von einer blossen «Verständigung». Vgl. Bauer, Eisenbahnen, S. 71; Jung, Aufbruch, S. 426; NZZ, 15. Februar 1853; Jakob Dubs an Alfred Escher, 8. Juni 1853; Andreas Rudolf von Planta an Alfred Escher, 17. Juni [ 1853 ]; Andreas Rudolf von Planta an Alfred Escher, 23. September [ 1853 ]; Andreas Rudolf von Planta an Alfred Escher, 16. Oktober [ 1853 ].
4Der Ausdruck «Basler» bezieht sich hier auf die Schweizerische Centralbahn und ihre Gotthardpläne.
5Gemeint sind die Bewohner der Leventina, der Magadinoebene (zwischen Bellinzona und dem Lago Maggiore) und des Sottoceneri.
6Im erwähnten Artikel wird «der Wettkampf zwischen dem Gotthardt und Lukmanier » thematisiert und ein Leserbrief dazu abgedruckt. «Die Einsendung lautet: ‹Der Kampf zwischen dem Lukmanier und dem Gotthardt hat bereits zu verschiedenen Fragen Anlaß gegeben, ob es wirklich im Interesse Zürichs sei, sich dem einen dieser Projekte mehr als dem andern anzuschließen, ob es rathsam sei, auf Kosten des einen das andere ausschließlich zu unterstützen, ob es wohl nicht am zweckmäßigsten wäre, hier entweder beide gleich oder keins von beiden zu befürworten, – ja sogar ob der Gotthardt für Zürich nicht vielleicht die wichtigern Interessen in sich fasse? [...] Wie nun, wenn die Verbindung von Zürich über Chur und den Lukmanier nach Bellinzona 14 Stunden länger ist als über den Gotthardt?›» NZZ, 9. Juni 1853.
7 Ludwig Plazid Meyer von Schauensee (1807–1871), Grossrat (LU), Repräsentant der Schweizerischen Centralbahn in Luzern.
8 Peter Jakob Felber (1805–1872), Chefredaktor der NZZ.