Bellinzona 10. Juni 1853.
Mein lieber Freund!
Gestern schrieb ich Dir nicht, weil ich vor Besuchen &. Gegenbesuchen fast nicht Zeit dazu finden konnte &. weil fast von Stunde zu Stunde die Sachlage wechselt.
Ich habe nun die Sachlage mit den Mitgliedern des Staatsrathes &. sämmtlichen Großrathsnotabilitäten durchsprochen. Aus der Masse des Stoffs hebe ich heute nur ein Paar der wichtigsten Punkte heraus.
Man bestritt (&. es war dieß jedesmal ein Zeichen vorheriger Einwirkung durch Pioda ) sehr oft das Interesse Zürichs, sich in dem Streite zwischen Luckm. und Gotthardt zu betheiligen, indem der Luckmanier von Sardinien hauptsächlich auch wegen der direkten Verbindung mit dem | Bodensee angestrebt werde. – Diesen Punkt anbelangend verhielt ich mich nach den Umständen; ich hob stets heraus, daß es Zürich vor allem aus an einem Alpenübergang gelegen sei &. daß allerdings die andere Frage, ob Gotth. od. Luckm. in gewisser Beziehung nur sekundair Bedeutung habe, sprach mich dann aber für den Luckmanier aus wegen seiner vermittelnden Stellung, wegen der hier schon vorhandenen Vorarbeiten, der Zusicherungen Sardiniens u. s. f. &. suchte namentlich das Interesse Tessins am Luckm. aufzuzeigen.
Mit Bezug auf die Zusicherungen Sardiniens hegt man hier nun überall die Ansicht, daß die nämlichen Zusicherungen in Turin auch für den Gotthard zu erlangen seien. Ich glaube | jedoch, daß sich Basel in dieser Beziehung hier kompromittirt habe.
Wie ich Dir schon mittheilte, machten sie Versprechungen für eine Bahn von Bellinzona nach Chiasso; indeß sagte Hr. Meier1 in seinem Begehren ausdrücklich, daß er einstweilen ein förmliches Conzessionsgesuch nicht zu stellen im Falle sei. Unter der Hand machte aber Hr. Meier mündlich überall diese Zusicherung; Pioda erklärte dem A Marca2, daß diese Konzession von H. Meier verlangt werde, in Gegenwart des Letztern &. dieser konnte es nicht läugnen. – In Turin wird es aber wohl große Bedenken erregen, sich mit einer Gesellschaft zu liiren, welche die zugesicherten Millionen verwenden will, um an Oestreich anzuschließen &. die Bahn nach Triest &. Venedig zu completiren. |
Natürlich suchen wir den Transcenerinern3 begreiflich zu machen, daß man sie mit derartigen bloßen Versprechungen, die widersinnig seien, rein anlüge. Indeß läßt es sich denselben zur Zeit nicht aus dem Kopfe bringen, daß man ihnen für ihre Bahn eine gewisse Garantie geben müsse. Es sei dieß um so nothwendiger, als sonst mit der Zeit eine Bahn von Sesto Calende direkt nach Mailand od. von Laveno nach Como erstellt werden könnte, wodurch sie total abgeschnitten wären.
In diesem Punkte sind wir nun allerdings etwas in der Klemme. Eine Bahn über den Monte Cenere als Einsiegel4 zu dem großen Knochen über den Luckmanier – das geht natürlich nicht! Temperirendes, beschwichtigendes Verhalten wirkt in diesem Moment der Aufregung wenig; bloßen Versprechungen trauen sie ab Seiten der Luckmanier | gesellschaft nicht; Basels bloßen Versprechungen, obgleich sie mit ihren übrigen Plänen ganz widersprechend sind, trauen sie doch einigermaßen, weil sie hier mehr gleichartige Interessen vermuthen. Dieß der eine Hauptpunkt, welcher uns drückt.
Der zweite Punkt besteht darin, daß unter die Mitglieder des Großen Raths geflissentlich die Idee hineingeworfen wurde, die Gesellschaft der H. Kilias &. La Nicca biete gar keine Garantien: von den Engländern habe sich ja keiner unterzeichnet &. s. f. Das Schlußbegehren geht denn auf Sicherheitsleistung. Dieß scheint nun den H. Kilias &. Cp. in diesem Stadium der Angelegenheit nicht sehr angenehm zu sein, weil sie sich fürchten, man könnte nachher eine derartige Caution für verfallen erklären (sie wollten die Caution im Termin von 3 Monaten nach erlangter Conzession stellen). Die Sache ist schwierig; denn jemehr man sich bemüht, die angeregten Zweifel zu vernichten, desto mehr | bestärkt man diese ohnehin argwöhnischen Leute in ihrem Argwohn. Sie weisen auf die von Basel anerbotne Caution von 100,000 Fr. hin, da sehe man den Ernst &. drgl. Wir betrachten es daher als ziemlich ausgemacht, daß Kilias nach London reisen muß, um Caution zu holen.
Mit diesen Mitteln hat Basel seinen Zweck, Zeit zu gewinnen, vorläufig erreicht. Allseitig verlangt man eine Verschiebung. Wir können nichts dagegen einwenden, denn der Große Rath will (er sitzt seit 4 Wochen) wirklich heim &. vorbereitet ist noch gar nichts.
Die Hauptfrage ist jetzt die Dauer der Verschiebung. Pioda ist für Verschiebung bis in den August, da er auf den 20. Juni nach Bern verreist &. dann natürlich bis zum Schlusse der Bundesversammlung dort bleibt. Wir hätten raschere Entscheidung, in der Woche vor der Bundesversammlung gewünscht, um dieser die Conzession | noch vorlegen zu können; allein unsere Hoffnung ist aus verschiednen Gründen (worunter die vis inertiae5 des Staats- &. Großen Rathes eine Hauptrolle spielt) nicht sehr groß.
Der Entscheid wird nun morgen od. vielleicht auch erst am Montag fallen. Bis dahin bleibe ich auf dem Platze.
La Nicca hat eine gute Schrift6 – Gegenüberstellung von Luck. &. Gotthardt in ital. Sprache geschrieben, sie wird jetzt an die Großrathsmitglieder vertheilt.
Gegenwärtig handelt es sich im Großen Rathe darum, ob das Benehmen der Regierung in politicis v. Kapuzinerhandel7 bis auf die neuste Zeit gebilligt &. ihr ein Zutrauensvotum gegeben werden solle. Die durch die Schuld des Präs. Jauch8 ungünstig bestellte Kommission hat indeß doch in ihrer Mehrheit das Billigungs- &. Zutrauensvotum beantragt. Berichterstatter Luvini.9 Ueber den Ausgang ist kein Zweifel.10
Mit freundschaftlichem Gruß
Dein
J. Dubs.
Kommentareinträge
1 Ludwig Plazid Meyer von Schauensee (1807–1871), Grossrat (LU), Repräsentant der Schweizerische Centralbahn in Luzern.
2 Giuseppe a Marca (1799–1866), Grossrat und Kantonsrichter (GR).
3Gemeint sind die Bewohner des Sottoceneri.
4Insiegel: minderwertiges Fleisch, das beim Verkauf mitgewogen wird; übertragen: unerwünschtes Anhängsel.
5Vis inertiae (lat.): Kraft der Trägheit.
6 Vgl. La Nicca, Traforamento.
71852 wies die Tessiner Regierung Kapuziner aus, unter dem Vorwurf, Agenten Österreichs und reaktionäre Aufwiegler zu sein. Der Konflikt weitete sich aus und belastete das ohnehin durch die Problematik der italienischen Flüchtlinge bereits angespannte Verhältnis zwischen der Eidgenossenschaft und Österreich. In der Folge gingen auch die süddeutschen Staaten auf Distanz, was sich wiederum ungünstig auf die dortigen Verhandlungen der Südostbahn zur Kapitalbeschaffung auswirkte. Vgl. Ghiringhelli, Ticino, S. 243; Margadant, Lukmanier-Eisenbahn, S. 36–37.
8 Giovanni Jauch (1806–1877), Grossratspräsident (TI).
9 Giacomo Luvini-Perseghini (1795–1862), Bürgermeister von Lugano, Grossrat und Nationalrat TI, unterstützte das italienische Risorgimento, Freund von Giuseppe Mazzini.
10Der Grosse Rat sprach mit 84 gegen 16 Stimmen dem Staatsrat sein Vertrauen aus. Vgl. Processi verbali del Gran Consiglio, 10. Juni 1853 (S. 448–475).