Bellinzona 8. Juni 53.
Mein lieber Freund!
Glücklich hier angelangt, verfügte ich mich heute früh sofort zu Herrn Kilias. Dieser empfing mich mit der Nachricht, daß unsre Angelegenheiten sehr schlimm stehen &. sich namentlich in den letzten Tagen außerordentlich verschlimmert haben.
Der Abgeordnete der Centralbahn hat nämlich ein Konzessionsgesuch eingegeben, worin er definitiv die Linie Biasca–Locarno beansprucht, fakultativ die Conzession für den Gotthard oder Lukmanier (im Sinne späterer Option nach vorherigen Studien) verlangt &. schließlich für die Linie Biasca–Chiasso Versprechungen anfügt. – Dieß Gesuch wird von Herrn Meier1 von Luzern Ns der Direktion der Centralbahn| hier gestellt &. persönlich befürwortet. Sydler2 von Luzern &. Zraggen3 von Uri sind vorgestern wieder zurückgereist; dagegen sprach man davon, daß Speiser4 noch kommen dürfte, was indeß schwerlich geschehen wird (auffallender Weise war noch kein Basler da).
Unsererseits sind hier Kilias, La Nicca &. A Marca5 nebst meiner Wenigkeit.
Die Konzession an La Nicca wird als gänzlich erloschen &. zerfallen betrachtet (allerdings nicht ohne Grund, da Graubündten in diesem Stück voranging).
Das schlimmste von Allem ist, daß Pioda für Basel ist. So erklärten es mir schon heute Morgen die 3. genannten Herrn; so habe ich es nun selbst auch gefunden. |
Ich machte heute dem derzeitigen Regierungspräsidenten Herrn Bazzi6 &. dem Herrn Pioda meine Visiten. Die Sendung wirkt, wie mir auch A Marca erklärte, gut, nicht wegen der Person des Abgeordneten, sondern wegen der Thatsache, daß Zürich diesen Schritt gethan hat.
Hr. Bazzi scheint in Sachen weniger bewandert zu sein, übrigens ist er uns eher günstig gestimmt (er ist von Brisago am Langensee); er wies mich an die für diese Angelegenheit bestellte Kommission der Regierung bestehend aus Herrn Pioda, DeMarchi7 &. Rusconi8.
Mit Herrn Pioda konnte ich etwas näher eintreten; unsere Unterredung dauerte ziemlich lange. Ich betonte den Werth, den Zürich auf die Frage setze, etwas stark. Er sprach seine Freude da| rüber aus, da Z. sich sonst bisher in Sachen sehr passiv verhalten &. z. B. Hr. Escher in letzter Wintersitzung in Bern wenig Antheil gezeigt habe. Ich ripostirte, man habe damals in Z. an Einen Alpen- übergang noch nicht recht glauben können; man sei in Zürich ebenso überrascht, daß man in Tessin sogar jetzt an deren zwei glaube. – Er beschwerte sich sodann über die Haltung von Graubündten, es wage aber auch kein Churer herzukommen. Die Basler haben sich zuerst (Conferenz mit Speiser im letzten Januar in Bern) ihnen genähert, nicht Bündten mit dem Lukmanier;9 es sei unwahr, daß diese jetzt erst auftreten; es sei ihnen Ernst, sie leisten Caution (100,000 Fr.!!); sie versprechen, auch eine Conzession für Biasca–Chiasso zu verlangen; dieß in Verbindung mit dem Gotthardt sei auch ein patriotisch-europäisches Unternehmen. | Gegenüber diesem Plaidoyer für die Interessen Basels (ihres lojalen alten Freundes) machte ich ein etwas skeptisches Gesicht &. drang auf den Detail. Er bemerkte nun im Verfolge, es sei allerdings richtig, daß die Begehren Basels noch der nöthigen Bestimmtheit entbehren; man solle sich verständigen. Ich erwiederte ihm, ich sei nicht gegen eine Verständigung, die Grundlagen derselben seien mir aber unklar; überhaupt betrachte ich das Lukmanierprojekt schon als eine großartige Verständigung. Der Lukmanier scheine mir der Vermittler zwischen Gotthardt &. Splügen, zwischen Tessin &. Graubündten zu sein &. auch im Norden der Schweiz habe er die gleiche Vermittlerrolle zwischen St. Gallen, Zürich &. Basel. Er suchte hinwieder die Verständigung 1. in Turin (man solle dort entscheiden lassen, ob die Subsidien eventuell auch dem Gotthardt zugesichert werden); 2. in den inzwischen vorzunehmenden genauern Terrainstudien. Am besten sei also zuletzt eine Verschiebung des Entscheids; damit sei die Kommission so ziemlich einver| standen; ohnehin sei der Große Rath fast nicht mehr zu halten etc. etc. Darauf blieb dann schließlich die Unterredung stehen.
Dieser Verschiebung, die nur halb angenehm sein kann, weil gegenwärtig die Stimmung uns nicht günstig ist, da die Transcenerianer10 durch die oben angeführten Versprechen für Basel sind, steht entgegen:
1. Der Ablauf der von Sardinien angesetzten Frist (1.Nov. );11
2. Die Möglichkeit des Zerfalls der englischen Gesellschaft;
3. Die
Klemme der Südostbahn, mit der die Fusion so zusagen fertig ist.12
Basel will die Verschiebung offenbar, um inzwischen die Sardinischen Millionen zu ergattern, event. mit noch stärkerer Kraft Alles zu hintertreiben.
Zwischen La Nicca &. A Marca &. Meier haben schon mehrfache Conferenzen bezüglich der vorgeschlagnen Verständigung stattgefunden, allein Hr. Meier weicht alle bestimmten Vorschläge aus.
Wir halten fleißig Kriegsrath; vorläufig finden wir, daß sich gegen die Verschiebung nicht viel | machen lassen wird. Die Hauptschlacht muß offenbar in Turin geschlagen werden; La Nicca hofft zuversichtlich auf deren günstigen Entscheid.
Ueber Zürich hat mir die Regierung zu Euern Handen viel Schmeichelhaftes gesagt; die starke Betheiligung an der Subscription wird von jedem Mitglied herausgehoben.13
Ich ende vorläufig; der Große Rath dau-ert noch diese Woche, wenn er nicht verlängert wird. In der Zwischenzeit gibt es wirklich so ziemlich genug zu thun. Die Herrn K. etc. glauben, ich müsse bis zum Entscheide bleiben.
St. Gallen hat noch keinen Abgeordneten abgeschickt;14 ich glaubte zwar, Hr. Nat.Rath Hoffmann15, den ich am Vierwaltstädtersee auf der Station Beckenried traf, wolle ebenfalls ins Tessin. Ich irrte mich jedoch, indem er aus der Rechenschaftsprüfungs Kommission16 von Bern nach St. Gallen heimkehrte.
Ich schließe mit freundschaftlichem Gruß.
Dein
J. Dubs
in Aquila Bellinz.17
Kommentareinträge
1 Ludwig Plazid Meyer von Schauensee (1807–1871), Grossrat (LU), Repräsentant der Schweizerischen Centralbahn in Luzern.
2 Johann Baptist Sidler (1790–1881), Regierungsrat (LU).
3 Franz Xaver Zgraggen (1802–1896), Unternehmer, Regierungsrat (UR).
4 Johann Jakob Speiser (1813–1856), Direktionspräsident der Schweizerischne Centralbahn.
5 Giuseppe a Marca (1799–1866), Grossrat und Kantonsrichter (GR).
6 Domenico Bazzi (1806–1871), Staatsrat (TI).
7 Agostino Demarchi (1813–1890), Staatsrat und Nationalrat (TI).
8 Rodolfo Rusconi-Orelli (1802–1874), Staatsrat (TI).
9Konferenz nicht ermittelt. – Wie verschiedene Zeitungen meldeten, wurde Speiser Ende Januar 1853 in Bern erwartet, angeblich zu Fusionsverhandlungen der Schweizerischen Centralbahn mit der Compagnie de l'Ouest-Suisse. Möglicherweise fanden auch Gespräche zwischen Speiser und den Tessiner Vertretern der zugleich tagenden National- und Ständeräte statt. Vgl. Intelligenzblatt für die Stadt Bern, 24. Januar 1853. – Die Regierung Tessins hatte sich seit längerem um eine Konferenz mit St. Gallen und Graubünden bemüht, bekam jedoch am 7. Januar 1853 von Graubünden eine Absage. Am 1. Februar 1853 kam eine Konferenz dieser drei Kantone in Bern doch noch zustande. Vgl. Müller, Alpenbahn-Bestrebungen, S. 19–20.
10Gemeint sind die Bewohner des Sottoceneri. Zur Ceneri-Linie Escher und die Ostalpenbahnfrage, Absatz 12.
11Die Abgeordnetenkammer des Königreichs Sardinien-Piemont hatte am 7. Mai 1853 beschlossen, «eine bis Ende November sich [...] bildende solide Gesellschaft» für eine Lukmanierbahn mit 10 Mio. Franken zu unterstützen. Liberaler Alpenbote, 14. Mai 1853; Andreas Rudolf von Planta an Alfred Escher, 19. Mai [ 1853 ].
12Die Schweizerische Südostbahn steckte im Sommer 1853 in argen Finanznöten, da sie bis dahin weniger als die Hälfte ihrer Aktien absetzen konnte. Das englische Konsortium, mit dem bereits am 3. Juni 1853 ein Vertragsentwurf für eine gemeinsame Gesellschaft aufgesetzt worden war, sollte die Schweizerische Südostbahn finanziell unterstützen. Vgl. Bänziger-La Nicca, Richard La Nicca, S. 174; Planta, Alpenbahn, S. 29–30; Wegmann, Vereinigte Schweizerbahnen, S. 37, 43.
13Gemäss einer Zählung vom 12. Juni 1853 wurden bis dahin im Kanton St. Gallen 7621 Aktien (davon 2121 von Privaten), in Graubünden 7541 (3541), in Glarus 1597 (597) gezeichnet. Die vergleichsweise bescheidenen 832 im Kanton Zürich von Privaten gezeichneten Aktien waren insofern beachtlich, als die projektierte Bahn nicht über Zürcher Boden führte und auch die Kantonsregierung noch keine Beteiligung zugesagt hatte. Aus Sicht von Andreas Rudolf von Planta war die Zürcher Aktienzeichnung allerdings zu niedrig. Vgl. Bündner Zeitung, 14. Juni 1853; Andreas Rudolf von Planta an Alfred Escher, 19. Mai [ 1853 ].
14Gemäss Peter Conradin von Planta wurden die Interessen St. Gallens in dieser Sache durch Nationalrat Johann Matthias Hungerbühler (1805–1884) vertreten. Vgl. Planta, Alpenbahn, S. 25.
15 Joseph Marzell Hoffmann (1809–1888), Mitglied des Grossen Rats, des Kleinen Rats und des Nationalrats (SG), Verwaltungsrat der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn.
16 Hoffmann war Präsident der mit der Prüfung der Geschäftsführung des Bundesrates beauftragten Nationalratskommission, die sich am 30. Mai 1853 in Bern versammelte. Vgl.Bericht der Kommission des Nationalrathes über die Geschäftsführung des Bundesrathes während des Jahres 1852 und über die Staatsrechnung von demselben Jahre, in: BBl 1853 II, S. 737–738; BBl 1853 II, S. 854.
17Dubs war vermutlich im Albergo dell'Aquila abgestiegen, an der heutigen Piazza Indipendenza 6–7 in Bellinzona. Vgl. INSA II, S. 297, 318.