Zürich d. 10. März 1852.
Lieber Freund!
Gestern war ich am Leichenbegängniß des alten Wunderli1, dem Hr. Pf. Gutmann2 eine von edelm humanistischem Geist durchdrungne, wirklich erbauliche Leichenpredigt hielt, in der er den Veteranen schmucklos, aber treu schilderte. Es waren noch mehrere Kantonsräthe &. viele Notabilitäten jener Gegend beisammen &. es sprach sich der beste Geist in politicis3 aus. Fierz4 hat mir besonders wohl gefallen, er ist ganz entschlossen &. entschieden. Bei dieser Gelegenheit vernahm ich auch, daß Hüni-Stettler5 auf den nächsten Großen Rath Motionen präparire; offenbar will er eine Art Mittelpartei | (weiße Demokratie) damit gründen &. wird muthmaßlich damit einigen, wenn auch nicht großen, Anklang finden.
Ich betrachte unter obwaltenden Umständen das Wahlresultat von letztem Sonntag 6 fast als ein günstiges für uns. Der Dorn ist quoad personam7 aus dem eiternden Fleische gezogen &. es ist zuletzt besser, der neue Heiland agire auf der Bühne, als hinter den Coulissen. Die Operation auf dem sächlichen Gebiete wird für die Gegner bedeutend schwieriger, als auf dem persönlichen, da sie auf letzterm gleichsam nur gegen einen sogenannten Druck von oben Opposition machten, während sie nun von der Defensive zur Offensive &. von | der unklare Operationen begünstigenden Personalfrage zur Realfrage überzugehen gezwungen werden. «Vater» Treichler8 scheint zwar den Kampf zunächst noch auf dem persönlichen Gebiet halten zu wollen, allein er läßt sich, wenn er dieß thut, offenbar auf ein sehr ungünstiges Terrain ein. Trügt mich nicht Alles, so wird Dir der Kampf in dieser Richtung Lorbeern bringen. Die offenbare, Dir jüngst schon einmal mündlich angedeutete Taktik der Gegner, geht auf Theilung der Regierung.
Der Artikel in der Montagsnummer der N.Z.Z. (Fusion der Parteien)9 wird Dich erbaut haben. Dieser Felber10 ist &. bleibt ein Mondkalb; es fehlt jetzt nur noch, daß er auch zu hüni-stettlern beginnt &. das wird wohl nicht lange ausbleiben. Es will jetzt Jeder der Gescheidtere sein &. das Land strotzt von Reformern &. Staatsmännern. Meiner Ansicht nach läßt man sie ein bischen frankfurtern11 &. handelt sodann, wenn Jene mit Sprechen fertig sind.|
Wie gehts in Bern? Ich wünsche, daß Du dort Deine völlige Ruhe &. Heiterkeit wiederfindest, nöthigenfalls sogar durch das Mittel schöner Augen. Laß die Reizbarkeit dort!
Mit Eurer eidg. Politik puncto Genf bin ich nicht einverstanden; eine Besetzung schiene mir sehr mal à propos, weil man selbst dadurch Genf dem Ausland denunciren würde. Die Wichtigkeit der Flüchtlingsangelegenheit wird sicher in Bern überschätzt. Verzeihe mir diese Bemerkungen, sie datiren vielleicht aus Gefühlen, die bei der Bundesrathswahl entstanden sind; vielleicht findest Du sie deswegen ebenfalls einiger Berücksichtigung würdig.
Indem ich schließe, verbinde ich mit meinem herzlichen Gruß an Dich Grüße an die dortigen Freunde &. verharre als
Dein steter Freund
J. Dubs.
Kommentareinträge
1 Hans Wunderli (1778–1852), verstorbener Grossrat und Oberstleutnant (ZH).
2 Heinrich Gutmann (1776–1854), Pfarrer in Meilen.
3In politicis (lat.): in politischen Angelegenheiten.
4Person nicht ermittelt. – In Frage kommen Hans Jakob Fierz (1787–1861), Grossrat und Oberst (ZH) sowie Johannes Fierz (Lebensdaten nicht ermittelt), Grossrat (ZH).
5 Heinrich Hüni-Stettler (1813–1876), Grossrat (ZH).
6Gemeint ist die Wahl Johann Jakob Treichlers in den Nationalrat am 7. März 1852. Vgl. Gruner, Nationalratswahlen III, S. 27; Johann Jakob Blumer an Alfred Escher, 19. März 1852.
7Quoad personam (lat.): was die Person betrifft.
8 Johann Jakob Treichler (1822–1906), Grossrat und Kantonsprokurator (ZH).
9Gemeint ist möglicherweise ein Artikel unter dem Stichwort «Zürich». Der Verfasser äussert die Ansicht, dass die Bedeutung der vorangegangenen Wahlbewegung in einer «neuen Parteiung» liege. Der alte Streit zwischen Stadt und Land sei in den Hintergrund getreten. Im Zentrum stehe neuerdings die Frage, «was der Staat der Gesellschaft zu leisten» habe. NZZ, 8. März 1852.
10 Peter Jakob Felber (1805–1872), Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung».
11Es handelt sich wohl um eine Anspielung auf die langen Debatten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche. Verfassung und deutsche Einigung scheiterten. In der Schweiz war die Meinung verbreitet, dass man in Deutschland die Gunst der Stunde nicht zu nutzen gewusst habe. Vgl. Braitling et al., Ploetz, Frankfurter Nationalversammlung; Lehmann, Spiegelung, S. 186; Flüchtlingswesen, Absatz 26.