Bern den 18 Jan. 52
Mein lieber Freund!
In Fortsetzung meiner Berichte melde ich Dir, daß die fremden Staaten nun bald mit allem Ernst in Flüchtlingssachen sich an die Schweiz wenden werden, was besonders dadurch motivirt wird, daß die Beschlüße des Bundesraths nicht vollzogen werden, daß zB. von den 17 frühern u 7 neulich ausgewiesnen noch manche in der Schweiz befinden u von den Kantonalbehörden beschützt werden, daß man keinen Ernst entwikle us. w. Ich lege Dir ein confidentielles Schreiben aus Wien1 bey mit der Bitte um Rüksendung.
Gestern hat mir bereits der Oestr. Gesandte2 einen Auftrag seiner Regierung verlesen, die Bemühungen des franz. Gesandten für Ausweisung der Flüchtlinge bestens zu unterstützen, damit der vieljährige Scandal in d. Schweiz einmal aufhöre.3 Es wird klar darauf hingewiesen, daß jetzt eine neue Aera angebrochen sey. Von den deutschen Flüchtlingen steht nichts. Allein schon wiederholt hat Fenelon4 auf diese losgezogen, so daß es klar ist, sie werden sich gegenseitig helfen. –
Diese Sache scheint mir viel schlimmer, als die Angriffe auf die Preße u die Judengeschichte5, weil wir dort ganz recht u gewiß die ganze Nation für uns haben. Allein bey den Flüchtlingen ist letztres nicht von ferne der Fall u die Masse betrachtet die | Sache eben nicht von dem höhern Standpunkt der Unabhängigkt u Selbständigkeit, sondern sie will für diese Leute nicht incommodirt werden od. wenigstens keine erheblichen Opfer bringen. Dazu kommt, daß diese Beschwerde wegen der Flüchtlinge eine Seite hat, deren Wahrheit man nicht leicht bestreiten kann, wenn man nicht so lügen will, wie früher der Berner Vorort u selbst die Tagsatzung gegenüber dem Reichstage in Frankfurt gelogen hat. Unsre Gegner sagen nämlich, wenn auch die Flüchtlinge jetzt scheinbar ruhig sind, wenn man ihnen wenigstens erhebliche Umtriebe nicht förmlich beweisen kann, so zeigt die Erfahrung aller Zeiten, daß sie sogleich bei der Hand sind, sobald irgendwo Unruhen ausbrechen u nie hat die Schweiz sie dann an Einfällen verhindert. Man sehe den Savoyerzug6 u die drey Badischen Insurrektionen, wo die Flüchtlinge maßenweise zuzogen, ohne daß in der Schweiz jemand versuchte, sie zurükzuhalten.
Dieses u ähnliches sind harte Nüsse! – Ich werde Dir den weitern Gang mittheilen.
Vielleicht intressirt es Dich die franz. Juden Note u unsre Antwort7 zu lesen. Sie liegen hier bei. Die erstre kannst Du behalten, wenn Du willst; die letztre aber sende mir bald zurück, denn es ist das Original Concept, das zu den Acten gehört. Die Correcturen sind Folge der Discussion im Bundesrath. Wir haben fast den ganzen Context der franz. Note darum aufgenommen, | damit beydes in einem Aktenstück sey, das wahrscheinlich später publicirt werden muß.
Gott zum Gruß!
Dein
F.
Dem Kinde8 geht es etwas besser; aber es ist immer noch schlimm genug.
Kommentareinträge
1Gemeint ist wohl das Schreiben des schweizerischen Geschäftsträgers in Wien, Ludwig Eduard Steiger, betreffend die Flüchtlinge und den Vormarsch der Reaktion. Vgl. Schreiben Ludwig Eduard Steiger an Jonas Furrer, 11. Januar 1852, in: DDS I, S. 265–267.
2Vermutlich Ladislaus Karnicki (1820–1883), ab März 1852 interimistischer Geschäftsträger des Kaisertums Österreich in Bern. – In Abwesenheit des österreichischen ausserordentlichen Gesandten Ludwig von Thom hatte Karnicki die Geschäfte bereits früher besorgt. Vgl. Staatskalender CH 1852, S. 31.
3 Vgl. Schreiben J. von Werner an L. Karnicki, 11. Januar 1852, in: DDS I, S. 268–269.
4 Jean Raymond Sigismond Alfred de Salignac-Fénelon (1810–1883), ausserordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister der Französischen Republik in Bern. Flüchtlingswesen, Absatz 46.
5Siehe weiter unten.
6Gemeint ist ein von Giuseppe Mazzini geplantes revolutionäres Unternehmen aus dem Jahr 1834. Vgl. HLS online, Mazzini Giuseppe.
7Mit Note vom 16. Dezember 1851 hatte der damalige französische Gesandte in Bern, Charles de Reinhard, gegen die Ausweisung französischer Händler jüdischen Glaubens aus den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft protestiert und dieselbe als Verletzung der im Staatsvertrag von 1827 gegenseitig zugesicherten Niederlassungsfreiheit bezeichnet. Vgl. Schreiben BR an Jean Raymond Sigismond Alfred de Salignac-Fénelon, 14. Januar 1852, in: DDS I, S. 269–276; Moltmann, Amerikanisch-schweizerischer Vertrag, S. 106.
8Vermutlich Leonie Furrer (1849–1927), Tochter von Friederike und Jonas Furrer.