Zürich d. 6. Mai 1850.
Werther Freund!
Zuvörderst meine besten Glückwünsche zu Deiner Doppelwahl1; ich vereinige sie mit denjenigen des souveränen Volks. Es wird Dir zwar seltsam vorkommen, daß Du neben Treichler2 durch 3. Scrut. wandern mußtest; indeß darf es Dich nach Allem, was ich gehört habe, persönlich durchaus nicht affiziren. Ullmer soll in der Vorversammlung etwas barsch mit einzelnen Ungeladnen umgegangen sein &. dieß soll dann die Folge gehabt haben, daß Jene nun alles Mögliche thaten, um ihren Candidaten Treichler auf recht eklatante Art hervorzusetzen, ohne daß die Opposition eigentlich Deiner Person gegolten hätte. Die Partei Treichlers bestand hauptsächlich aus Arbeitern &. Schullehrern, beide sehnsüchtig auf die Progressivsteuer &. allerlei materielle Erleichterungen blickend &. von Treichler die Messiasrolle erwartend. Die Täuschung dürfte für Herrn Treichler selbst | am schlimmsten ausfallen, wenn er nicht sehr viel Talent &. Staatsklugheit besitzt, was ich ihm in beiden Richtungen nicht im höchsten Maße zutraue. – Im übrigen bestätigt Dir dieß vielleicht, daß ich im Schönegg wahr zu Dir gesprochen, als ich sagte, Du werdest Deine Stützen im Mittelstand finden &. weiter nach unten schwerlich je viel Boden bekommen. –
Mit den Wahlen dürfen wir sonst im höchsten Grade zufrieden sein; tüchtige frische Kräfte für uns, die Gegner vor &. nicht mehr hinter der Front. Spyri3 ist auf dem Gnadenkärrlein, nachdem er etwa durch 40. Scrutinien durchgeschleppt worden, endlich am Schwanz der 12. hereingekommen mit Beihülfe der Liberalen &. der eig. Burgerschaft. Die Vornehmen wollten nichts von ihm wissen.
In Riesbach wurden die Liberalen übertölpelt, sie setzten bloß 5. Candidaten durch, die 2. letzten unter Schmerzen (Bürgi4 &. Ernst5).
Die Bezirke Affoltern &. Meilen sind ganz sauber. – Die Affolter waren über meine Rückkehr hoch erfreut &. brachten mir am Abend sogar einen – Fackelzug!, ein in der Chronik von Affoltern | unerhörtes Ereigniß, natürlich mit obligatem Gesang &. nebst einem kleinen Lustfeuerwerk. Der Abend war wirklich prächtig, ich wurde von Liebe wahrhaft überschüttet &. das Heiterste an der Sache war das, daß die Konservativen, trotzdem daß ich in der Kirche gut deutsch mit ihnen gesprochen, von den Vordersten unter jenen Theilnehmern waren. Wenn wir um 11. Uhr noch zu wählen [gehabt?] hätten, so hätten wir unfehlbar 4 total Rothe6 gewählt – ganz einmüthig. Die Konservativen waren hoch erfreut, bei dieser Gelegenheit wieder mit uns sich vereinigen zu können, sie schwuren &. sangen förmlich Treue. – Oberst Brunner7 drang nicht mehr durch (wegen seines Rückzugs am Rotherberg8), die Soldaten erklärten, er habe sie um ihren Ruhm gebracht. Statt seiner wurde Hptmann Schneebeli9, Enkel des ao 4. hingerichteten Schneebeli10, gewählt, ein treuer &. entschiedner Mann.
In Bauma kam Gujer11 knapp hinein, neben ihm kein Kons. Meili12 machte den Spitzbuben, fiel aber dessenungeachtet durch; auch Keller13 von Grüningen wird der Apostasie beschuldigt, woran ich nicht glauben mag. – In Thalweil siegte der 32er14 Schwarzenbach15 neben meinem Herrn Subst. Hotz16. – Das schönste sind die 3. radikalen Pfarrer, prächtige Antwort auf die religiöse Beunruhigung.
Nach Bern kann ich unmöglich mehr kommen. Dafür empfange die freundschaftlichsten Grüße (auch f. Peyer)
von Deinem
J. Dubs.
Kommentareinträge
1Escher wurde bei den Grossratswahlen vom 5. Mai 1850 in den Wahlkreisen Wiedikon und Elgg gewählt. Vgl. hierzu und zu den unten erwähnten (Nicht-)Wahlen «Ergebniß der Großrathswahlen im Mai 1850», in: NZZ, 6. Mai 1850 (Beilage).
2 Johann Jakob Treichler (1822–1906), Kantonsprokurator (ZH). – Treichler wurde im Mai 1850 in den Grossen Rat gewählt.
3 Johann Ludwig Spyri (1822–1895), Pfarrverweser in Fischenthal. – Spyri wurde im Mai 1850 in den Grossen Rat gewählt.
4 David Bürgi (1801–1874), Grossrat (ZH) und Gemeindepräsident von Fluntern.
5 Jakob Ernst (Lebensdaten nicht ermittelt), Grossrat (ZH) und Friedensrichter in Zollikon.
6Als «Rote» wurden die Radikal-Liberalen bezeichnet. Vgl. Degen, Farbenlehre, S. 19.
7 Karl Heinrich Brunner (geb. 1799), Grossrat und Kantonskriegskommissär (ZH). – Brunner wurde bei den Grossratswahlen im Mai 1850 nicht wiedergewählt. Vgl. Regierungsetat ZH 1850/51.
8Gemeint ist der Rooterberg, wo Zürcher Truppen im Sonderbundskrieg kämpften. Zu diesen Kampfhandlungen vgl. Bucher, Sonderbund, S. 358–372; Zurlinden, Bilder Zürich I, S. 287–297.
9 Heinrich Schneebeli (1809–1883), Bezirksrichter (Affoltern a. A. ). – Schneebeli wurde im Mai 1850 in den Grossen Rat gewählt.
10 Jakob Schneebeli (1755–1804), Richter und Militär. – Als einer der Führer der aufständischen Landbevölkerung im Bockenkrieg wurde Schneebeli 1804 gefangengenommen und später hingerichtet. Vgl. HBLS VI, S. 223. – Beispielhaft zur Geschichte des Bockenkriegs vgl. Jung, Bockenkrieg.
11 Heinrich Gujer (1801–1868), Grossrat (ZH) und Statthalter des Bezirks Pfäffikon.
12Person nicht ermittelt.
13Vermutlich Carl Ferdinand Keller (geb. 1812), Grossrat (ZH), Notariatssubstitut.
14Sachverhalt nicht ermittelt.
15Person nicht ermittelt.
16Substitut von Staatsanwalt Jakob Dubs war Johann Heinrich Hotz (geb. 1822). Hotz erscheint jedoch nicht unter den gewählten Grossräten. Vgl. Regierungsetat ZH 1850/51, S. 100; NZZ, 6. Mai 1850, Beilage «Ergebniß der Großrathswahlen im Mai 1850».