Zürich den 17 Oct. 1848
Mein lieber Freund!
Du wirst zwar viele Berichte über unsre bisherigen Wahlen erhalten haben; gleichwohl will ich dir noch schreiben. Gestern konnte ich nicht, weil ich den ganzen Tag mit der Wahl Commission u den Expeditionen zu thun hatte. –
Nach unsrer Abrede haben wir alles mögliche gethan, daß die rechten Leute sich mit den Wahlangelegenheiten befassen u es ist auch geschehn. Allein an vielen Orten waren eben die Liberalen in ihren Ansichten nicht einig. Persönlichkeiten, Ambition, Localrüksichten spielten eben hie u da eine große Rolle. Im 2tn Kreise drohten die Conservativen mit allem möglichen, wenn man nicht für Muralt1 stimme. So wurde er gewählt durch Concession, was hinwiederum viele Liberale übel gestimmt hat. Nun haben Fierz2 u Muralt ausgeschlagen3 u es könnte möglich seyn, daß sie einen Conservativen hineinbrächten, zumal wenn die Liberalen, welche das Vertrauen besitzen immer ausschlagen. Der alte Wild4 hatte auch ausgeschlagen, allein ich konnte ihn zum Bleiben bereden. Nun spricht man davon, daß Hürlimann-Zürcher5 ebenfalls nicht annehmen wolle. Huber6 in Horgen wäre auch gut u nähme an; allein er zieht nicht recht am See, geschweige im Bez. Hinweil; er gehört nämlich zu der unpopulären, liberalen | See-Noblesse; auch mag das Vorurtheil gegen die Juristen etwas wirken, das fataler Weise unsre tüchtigsten Advokaten ausschließt.
Im dritten Kreise ists gar fatal; da ist noch eine Wahl zu treffen u die meisten Stimmen hatten Homberger7 u Gujer8 – Scilla & Charybdis9. Im Bez. Winterthur ist große Aversion gegen Homberger, allein sie müßen ihm jetzt stimmen, sonst wird Gujer gewählt. Hombergers Wahl wird indeß keinen guten Eindruk machen. Wir hätten so tüchtige Talente u brave Charakter im Advokatenstande; jetzt muß gerade der ziehen, der im allgemeinen einen zweydeutigen Ruf hat. Zangger10 soll nämlich durchaus nicht annehmen wollen.
Im vierten Wahlkreis wirds nicht fehlen, obwohl man auch da vielleicht besser wählen könnte. Weidmann11 hat also das Mehr erhalten u so bleiben noch zwey. Am meisten Chancen scheinen Benz12, Meyer13 v. Andelfingen u Unholz14 zu haben. Such dir jetzt einen aus! –
Du wirst vernommen haben, wie brillant es im C. St Gallen ausfiel; ich hoffe, daß dieses Beyspiel unsre liberalen etwas aufraffen werde.15
Vorgestern habe ich an den Mohrenwirth16 in Bern geschrieben, ob er nicht für unser sechs in s. Hause u der nächsten Umgebung Logis geben könne. Diese sechs sind Wieland17, Du, Rüttimann, Müller, Rüegg18 u ich; von allen andern hatte ich Auftrag, Dich| habe ich proprio motu19 auf die Liste gesetzt. Wenns dir nicht recht ist, so schreibe mir bald. Glaubst du auch, daß Ihr rechtzeitig nach Bern kommen könnt? –
Im Portefeuille des Raths des Innern befindet sich ein Geschäft (Welti, Arter &c c. Gem. Enge)20, welches du früher hattest, wenn ich nicht irre. Da nun aber der Himmel weiß, wann du wieder nach Zürich kommst, so gedenke ich die Sache zu behandeln, sofern du nicht einen gar großen Werth darauf setzest, selbst dabei zu seyn. Gebe mir auch hierüber einen Wink.
Noch möchte ich Deine Aufmerksamkeit auf eine wichtige Sache lenken. Es ist zu erwarten, daß ein Zürcher in den Bundesrath gewählt werde. Wenn Zürich Vorort wird, so hat dieses keine große Schwierigkeit, indem sich wohl jemand wird finden lassen. Wenn aber der Vorort anderswohin kommt, wie dann? – Könntest du dich entschließen, dich wählen zu lassen? Oder wen schlägst du vor? – Daß ich unter keinen Umständen ginge, wirst du bereits wissen u auch begreifen. Rüttimann würde vermuthlich sich auch nicht entschließen, da er überhaupt aus der Administration weg will. Denke doch ein bischen nach. –
Gestern Abend war ich mit m. Frau21 im Belvoir; deine Eltern sind recht gesund u munter. Sey mir nebst Munzinger22 herzlich gegrüßt.
Dein
F J
Ich bin ziemlich gesund, aber sehr melancholisch.
Kommentareinträge
1 Hans Conrad von Muralt (1779–1869), Präsident der Handelskammer (ZH), Fabrikant und Bankier.
2 Johann Heinrich Fierz (1813–1877), Kaufmann.
3 Muralt und Fierz wurden am 15. Oktober 1848 in den Nationalrat gewählt, schlugen die Wahl aber aus. Vgl. Eidgenössische Zeitung, 18. Oktober 1848; Gruner, Nationalratswahlen III, S. 9.
4 Johannes Wild (1790–1853), Fabrikant und Spinnereibesitzer. – Ab November 1848 Nationalrat (ZH).
5 Hans Heinrich Hürlimann (1806–1875), Grossrat (ZH), Fabrikant und Unternehmer. – Ab November 1848 Nationalrat (ZH).
6 Karl Adolf Huber (1811–1889), Bezirksgerichtsschreiber in Horgen.
7 Heinrich Homberger (1806–1851), Kantonsprokurator (ZH). – Ab November 1848 Nationalrat (ZH).
8 Heinrich Gujer (1801–1868), Grossrat (ZH) und Statthalter des Bezirks Pfäffikon (ZH).
9Szylla & Charybdis: zwei Meeresungeheuer in der griechischen Mythologie.
10 Hans Heinrich Zangger (1792–1869), Grossrat (ZH) und Spinnereibesitzer in Uster.
11 Felix Weidmann (1805–1891), Arzt in Niederweningen. – Ab November 1848 Nationalrat (ZH).
12 Rudolf Benz (1810–1872), Regierungsrat und Oberrichter (ZH). – Ab November 1848 Nationalrat (ZH).
13 Jakob Meyer (1818–1858), Grossrat (ZH) und Sekundarlehrer in Andelfingen.
14 David Unholz (1801–1851), Grossrat (ZH), Bezirksrichter (Bülach) und Arzt.
15Im Kanton St. Gallen schaffte kein konservativer Kandidat den Einzug in den Nationalrat. Vgl. Gruner, Nationalratswahlen III, S. 16–17.
16Person nicht ermittelt.
17 Johann Jakob Wieland (1783–1848), Regierungs- und Grossrat (ZH), Fabrikant. – Ab November 1848 Nationalrat (ZH).
18 Heinrich Rüegg (1801–1871), Grossrat (ZH) und Arzt. – Ab November 1848 Nationalrat (ZH).
19Proprio motu (lat.): aus eigenem Antrieb.
20Personen und Sachverhalt nicht ermittelt.
21 Friederike Furrer-Sulzer (1813–1876), Tochter der Wilhelmine Sulzer und des Regierungsrats Johann Heinrich Sulzer.
22 Josef Munzinger (1791–1855), Landammann und Kantonsrat (SO). – Escher hielt sich mit Munzinger im Kanton Tessin auf. Johann Jakob Rüttimann an Alfred Escher, 9. [Oktober] 1848, Fussnote 4.